«Diese Vereinbarung wird das europäische Asylrecht für Jahrzehnte zurückwerfen. Das wahrscheinliche Ergebnis ist eine Zunahme des Leids auf jeder Etappe der Reise eines Menschen, der in Europa Asyl sucht. Der Pakt wird mit ziemlicher Sicherheit dazu führen, dass mehr Menschen an den EU-Aussengrenzen de facto inhaftiert werden, darunter auch Familien mit Kindern und besonders verletzliche Personen. Statt eine faire und umfassende Prüfung ihres Asylgesuchs zu erhalten, wird eine wachsende Zahl von Geflüchteten in mangelhaften Asylverfahren abgefertigt werden», warnt Eve Geddie, Direktorin des Büros für die Europäischen Institutionen von Amnesty International.
«Der Pakt wird mit ziemlicher Sicherheit dazu führen, dass mehr Menschen an den EU-Aussengrenzen de facto inhaftiert werden, darunter auch Familien mit Kindern und besonders verletzliche Personen.» Eve Geddie, Direktorin des Büros für die Europäischen Institutionen von Amnesty International
Der Migrationspakt bietet keine konkreten Lösungen, um Staaten wie Italien, Spanien oder Griechenland, in denen die Menschen zuerst nach Europa einreisen, konkret zu unterstützen. Statt Solidarität zu zeigen – etwa in Form von mehr Resettlementplätzen – sollen europäische Staaten lediglich die Aussengrenzen weiter aufrüsten oder Ländern ausserhalb der EU dafür bezahlen, dass sie Menschen davon abhalten, nach Europa zu gelangen.
Ausnahmeregeln untergraben Flüchtlingsrecht
Die von der Europäischen Kommission, dem EU-Rat und dem Europäischen Parlament erzielte Einigung beinhaltet weitreichende Möglichkeiten für EU-Mitgliedsstaaten von menschenrechtlichen Mindeststandards abzuweichen, z.B. in Zeiten erhöhter Ankunftszahlen oder im Fall einer so genannten «Instrumentalisierung» von Schutzsuchenden. Menschenrechtsverletzungen werden durch vermeintliche «Krisenzustände» legitimiert. An den europäischen Aussengrenzen drohen gefährliche Präzedenzfälle, die das Recht auf Asyl weltweit untergraben können und Schutzsuchende der Gefahr schwerer Menschenrechtsverletzungen aussetzen.
Gleichzeitig verstärkt dieses Abkommen die Abhängigkeit von anderen Staaten ausserhalb Europas bei der Steuerung der Migration und baut auf den jüngsten Vereinbarungen mit Albanien, Libyen, Tunesien und der Türkei auf. Statt sichere und reguläre Fluchtwege für Geflüchtete zu schaffen, wird weiter in die Externalisierung der Grenzkontrollen investiert und die Verantwortung für Geflüchtete abgeschoben.
Die Reform betrifft auch die Schweiz als assoziiertes Schengen/Dublin-Mitglied. Statt sich an der weiteren Abschottung von Europa zu beteiligen, sollte sich die Schweiz für die Wahrung von Menschenrechten und der Rechtstaatlichkeit einsetzen. Amnesty International hat in den letzten Jahren wiederholt auf die fatalen menschenrechtlichen Auswirkungen der Asyl-Reform hingewiesen.
«Der Pakt wird die drängenden Probleme der Asylsysteme in Europa nicht lösen, darunter die unzureichenden Investitionen in Asyl- und Aufnahmesysteme, die illegalen und oft gewaltsamen Pushbacks, eine Politik, die Menschen das Recht auf Asyl verweigert, und Straffreiheit an den europäischen Aussengrenzen», sagte Eve Geddie.
«Wir fordern die EU und die europäischen Staaten erneut auf, sich mit diesen gut dokumentierten Verstössen zu befassen und Massnahmen zu ergreifen, um eine menschenrechtskonforme Asylpolitik zu gewährleisten, welche die Rechte der Menschen, die an den europäischen Grenzen ankommen, ausreichend schützt.»
Hintergrund
Das Europäische Parlament und der Europäische Rat haben heute eine politische Einigung über mehrere Schlüsseldokumente des neuen Pakts zu Migration und Asyl erzielt, darunter die Asylverfahrensverordnung, die Asyl- und Migrationsmanagementverordnung, die Screening-Verordnung, die Verordnung über Krisen und höhere Gewalt und die Eurodac-Verordnung. Die Beratungen werden auf technischer Ebene bis Februar 2024 fortgesetzt, wobei die formelle Annahme noch vor den Wahlen des Europäischen Parlaments im Juni 2024 erfolgen soll.