Symbolbild. Das ursprüngliche Bild wurde aus Urheberrechtsgründen ersetzt © Amnesty International
Symbolbild. Das ursprüngliche Bild wurde aus Urheberrechtsgründen ersetzt © Amnesty International

Russland Friedlicher Protest um die Parlamentswahlen unerwünscht

Medienmitteilung 12. August 2021, London/Bern – Medienkontakt
Immer restriktivere Gesetze, Strafverfolgung und brutale Gewalt durch die Polizei – die Behörden in Russland haben das Recht auf friedliche Versammlung so weit ausgehöhlt, dass es für die Bevölkerung fast unmöglich geworden ist, auf sinnvolle Weise zu protestieren. So soll friedlich geäusserte Kritik zum Schweigen gebracht werden. Zu diesem Schluss kommt Amnesty International in einem neuen Bericht vor den Parlamentswahlen in Russland.

In dem Bericht Russia: No Place for Protest dokumentiert die Menschenrechtsorganisation, wie die Unterdrückung friedlicher Proteste in den vergangenen Jahren seit Verabschiedung des föderalen Versammlungsgesetzes 2004 zugenommen hat. Eine ganze Reihe von Gesetzen wurde seitdem geändert und immer selektiver und restriktiver angewendet. Infolgedessen gibt es heute eine Fülle an rechtlichen Einschränkungen, die regeln, wann, wo, wie, zu welchem Zweck und von wem das Recht, im öffentlichen Raum seine Meinung zu äussern, ausgeübt werden kann.

«Die russischen Behörden beschneiden seit Jahren mit unglaublicher Hartnäckigkeit und immer neuen Ideen das Recht auf Versammlungsfreiheit. In kein anderes Thema wurde auf allen Ebenen der Macht so viel Energie gesteckt. Das hat dazu geführt, dass friedliche Proteste von staatlichen Stellen als Verbrechen angesehen werden – und von den wenigen Menschen, die es noch wagen zu demonstrieren, als heldenhafte Handlung», sagte Oleg Kozlovsky, Russland-Researcher bei Amnesty International.

Absurde Auflagen und Einschränkungen

«Die willkürlichen Einschränkungen, Auflagen und harten Sanktionen, denen russische Demonstrant*innen ausgesetzt sind, können in ihrer Absurdität nur als kafkaesk bezeichnet werden. Die russischen Behörden haben 16 Jahre und 13 parlamentarische Basteleien an der Gesetzgebung gebraucht, um das Recht auf friedliche Versammlung völlig auszuhöhlen.»

Neun der 13 grösseren Gesetzesänderungen, mit denen das Recht auf friedliche Versammlung in Russland eine massive Einschränkung erfuhr, wurden seit 2014 vorgenommen. Sie stehen im Zusammenhang mit der Niederschlagung regierungskritischer Proteste und der damit einhergehenden Einschränkung von Menschenrechten, die sowohl durch internationale Menschenrechtsnormen als auch in der russischen Verfassung verankert sind.

«Die willkürlichen Einschränkungen, Auflagen und harten Sanktionen, denen russische Demonstrant*innen ausgesetzt sind, können in ihrer Absurdität nur als kafkaesk bezeichnet werden.»Oleg Kozlovsky, Russland-Researcher bei Amnesty International

Nach den föderalen Vorschriften dürfen in der Nähe von Gerichtsgebäuden, Gefängnissen, den Residenzen des Präsidenten und seit Dezember 2020 auch in der Nähe von Rettungswachen keine Versammlungen stattfinden. Regionale Gesetzgebungen machen diese Einschränkungen sogar noch drastischer: In der Oblast Kirow beispielsweise verbieten örtliche Vorschriften alle Versammlungen in der Nähe von Kultur-, Bildungs-, Medizin- oder Unterhaltungseinrichtungen, Einkaufszentren, Spielplätzen und sogar Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel – also praktisch überall in den Städten. Spontane, d.h. nicht geplante Versammlungen sind generell verboten und werden, wenn sie dennoch stattfinden, unter massiver Gewaltanwendung aufgelöst.

Seit Dezember 2020 ist es ausländischen Staatsangehörigen, ausländischen und internationalen Organisationen sowie russischen Staatsbürger*innen und Nichtregierungsorganisationen, die von den Behörden als «ausländische Agenten» eingestuft werden, untersagt, öffentliche Versammlungen zu finanzieren. Darüber hinaus müssen Versammlungen mit mehr als 500 Teilnehmenden über ein einzurichtendes Bankkonto finanziert werden, andernfalls werden sie illegal.

Hohe Geld- und Haftstrafen

Seit 2011 hat sich die Zahl der spezifischen, gesetzlich definierten Verstösse gegen das Versammlungsgesetz von drei auf 17 erhöht. Die im Falle solcher Verstösse drohenden Geldstrafen sind von 2‘000 Rubel (knapp 25 Franken) im Jahr 2012 auf 300‘000 Rubel (3700 Franken) im Jahr 2021 angestiegen, und für zwölf dieser 17 Verstösse wurde eine Verwaltungshaft von bis zu 30 Tagen als mögliche Strafe eingeführt.

Die massivste Einzelmassnahme war die Einführung einer bis zu fünfjährigen Haftstrafe für wiederholte Verstösse gegen das Versammlungsgesetz im Rahmen des berüchtigten «Dadin-Paragrafen» 212.1 des Strafgesetzbuchs im Jahr 2014. Die Bezeichnung ist zurückzuführen auf den Aktivisten Ildar Dadin, der nach drei Ordnungsstrafen innerhalb von 180 Tagen wegen Einzelmahnwachen und ähnlichen Protestaktionen eine Freiheitsstrafe von drei Jahren nach einer erneuten Festnahme bei einer Protestaktion erhielt.

Gewaltexzesse und völlige Straflosigkeit für die Polizei

Unter diesen Bedingungen dennoch stattfindenden Protesten begegnet der Staat mit
unverhältnismässiger Gewaltanwendung durch Polizeikräfte. Dies wurde insbesondere bei der Niederschlagung der Proteste gegen die fortdauernde Inhaftierung Alexej Nawalnys im April in St. Petersburg deutlich. Es wurden Kampfsporttechniken gegen Demonstrierende eingesetzt, Protestierende mit Schlagstöcken niedergeprügelt und – seit 2021 – auch mit Elektroschockwaffen betäubt. Abgesehen von Einzelfällen bleiben solche Übergriffe ungeahndet.

Amnesty International fordert die russischen Behörden auf, die Gesetzgebung und Handlungsanweisungen zur Umsetzung des Versammlungsrechts zu reformieren, um sie in Einklang mit der Verfassung des Landes und den internationalen Menschenrechtsverpflichtungen zu bringen.