Denis Krivosheev, stellvertretender Direktor von Amnesty International für Osteuropa und Zentralasien, äussert sich dazu wie folgt: «Als ob der Vergiftungsversuch, die Inhaftierung und die unmenschlichen Haftbedingungen nicht schon genug gewesen wären, weist vieles darauf hin, dass Alexej Nawalny nun auch noch zum Verschwinden gebracht worden ist. Der Kreml schreckt vor nichts zurück in seinem Bestreben, seine Kritiker*innen zu unterdrücken».
Am 5. Dezember haben die Anwält*innen von Alexej Nawalny zum letzten Mal von ihrem Mandanten gehört. Seither weigern sich die russischen Behörden, über das Schicksal und den Verbleib von Alexej Nawalny zu informieren. Es besteht zwar die Möglichkeit, dass er sich auf dem Transport in eine andere Gefängniskolonie befindet. Amnesty hat die Praxis des Gefangenentransports dokumentiert und als erniedrigend und unmenschlich bezeichnet. Die Verlegung von Gefangenen in Russland kann sich über Wochen hinziehen, ohne dass die Angehörigen der Gefangenen darüber informiert werden. Sie gefährdet in der Regel die Gesundheit und das Wohlbefinden der Gefangenen, da sie dabei Misshandlungen und Schikanen ausgesetzt sind. Die Behörden wären eigentlich dazu verpflichtet, Informationen über die Verlegung von Häftlingen unverzüglich zur Verfügung zu stellen.
«Nawalny war bereits während seiner Inhaftierung Bedingungen ausgesetzt, die Folter und anderen Formen der Misshandlung gleichkommen. Er wurde ungerechtfertigterweise dem absolut strengsten Haftregime unterworfen, wurde über lange Zeiträume in Einzelhaft gehalten, und sein Gesundheitszustand hat sich verschlechtert. Die aktuelle Situation erhöht die Risiken, denen er ausgesetzt ist, zusätzlich. Die Verfolgung von Alexej Nawalny ist politisch motiviert und eine Vergeltung für seinen friedlichen politischen Aktivismus. Er ist ein Gewissensgefangener und muss unverzüglich und bedingungslos freigelassen werden. Die russischen Behörden müssen dringend Auskunft über sein Schicksal und seinen Aufenthaltsort geben», sagt Denis Krivosheev.
Hintergrund
Am Abend des 11. Dezember informierten Beamt*innen der Strafkolonie IK-6 in Melechowo in der Region Wladimir (etwa 250 km östlich von Moskau) den Anwalt von Alexej Nawalny darüber, dass der Gefangene nicht mehr in der Anstalt registriert sei. Nawalnys Pressesprecherin, Kira Jarmysch, erklärte, die Behörden weigerten sich, seinen neuen Aufenthaltsort bekannt zu geben. Alexej Nawalny sollte per Videoschaltung an den Gerichtsverhandlungen teilnehmen zu einer Klage, die er gegen die Strafkolonie wegen seinen Haftbedingungen eingereicht hatte. Die Zuschaltung war jedoch seit dem 7. Dezember nicht mehr möglich – angeblich aufgrund eines Stromausfalls.
Anfang dieses Monats sollte Alexej Nawalny aufgrund seiner angeblichen Verstösse gegen die Gefängnisregeln für zwölf Monate in die «einheitliche Strafzelle» verlegt werden. Es handelt sich dabei um die strengste langfristige Disziplinarmassnahme, die im russischen Strafvollzug möglich ist. Es bestehen weiterhin Bedenken hinsichtlich seines Gesundheitszustandes. Die harte und lange Einzelhaft und die Unterlassung einer angemessenen medizinischen Versorgung kommen Folter oder anderen Misshandlungen gleich.