Alexej Gorinow, ein Moskauer Oppositionspolitiker, wird wegen «Verbreitung falscher Informationen über die russische Armee in der Ukraine» festgenommen und zu 7 Jahren Haft verurteilt. © Solidarnost Political Movement
Alexej Gorinow, ein Moskauer Oppositionspolitiker, wird wegen «Verbreitung falscher Informationen über die russische Armee in der Ukraine» festgenommen und zu 7 Jahren Haft verurteilt. © Solidarnost Political Movement

Russland Antiterrorgesetze werden zunehmend zur Unterdrückung abweichender Meinungen missbraucht

Medienmitteilung 19. Februar 2024, London/Bern – Medienkontakt
Seit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 setzen die Behörden zunehmend und in beunruhigender Weise vage Antiterrorismus- und Antiextremismusgesetze ein. Im Visier sind auch Anhänger des Kreml-Kritikers Alexsej Nawalny, der letzten Freitag in einem Straflager gestorben ist. Dies zeigt eine Untersuchung von Amnesty International.

Der Bericht Terrorising the Dissent: Abuse of Terror-Related Charges in Russia dokumentiert, wie Russlands Behörden unter dem Deckmantel der nationalen Sicherheit verstärkt gegen Andersdenkende und friedliche Demonstrant*innen vorgehen.

«Diese Gesetze werden dazu benutzt, oppositionelle Stimmen zum Schweigen zu bringen und diejenigen, die es wagen, ihre Meinung zu äussern, in Angst und Schrecken zu versetzen.» Oleg Kozlovsky, Russland-Experte bei Amnesty International

«Was wir heute in Russland erleben, ist nicht nur ein Missbrauch des Rechts. Die Behörden instrumentalisieren Antiterrorismus- und Antiextremismusgesetze, um abweichende Meinungen zu unterdrücken und den öffentlichen Diskurs in einer Weise zu kontrollieren, die alarmierend ist. Diese Gesetze, die in ihrem Wortlaut vage und in ihrer Anwendung willkürlich sind, werden dazu benutzt, oppositionelle Stimmen zum Schweigen zu bringen und diejenigen, die es wagen, ihre Meinung zu äussern, in Angst und Schrecken zu versetzen», sagte Oleg Kozlovsky, Russland-Experte bei Amnesty International.

«Militärgerichte verhängen hinter verschlossenen Türen lange Haftstrafen, oft wegen eines Online-Kommentars oder einer Spende an eine oppositionelle Gruppe. Die Behörden können Einzelpersonen als ‚Terrorist*innen' und 'Extremist*innen‘ bezeichnen und sie von Finanzdienstleistungen und Grundeinkommen abschneiden, ohne dass ein Gerichtsbeschluss erforderlich ist. Der psychologische und emotionale Schaden für die Betroffenen und ihre Familien ist unermesslich, und die abschreckende Wirkung auf die gesamte russische Gesellschaft erheblich.»

Seit 2013 wurden 3738 Personen wegen terrorismusbezogener Straftaten schuldig gesprochen. Bemerkenswert ist, dass mehr als 90 Prozent dieser Verurteilungen nicht im Zusammenhang mit begangenen oder geplanten Terroranschlägen erfolgten, sondern wegen verschiedener anderer Handlungen wie der angeblichen «Rechtfertigung des Terrorismus». Die Zahl der Verurteilungen in diesem Zusammenhang hat sich in den vergangenen zehn Jahren um das 50-fache erhöht. Spätestens seit 2015, als die Statistik zum ersten Mal verfügbar war, wurde niemand, der wegen terroristischer Straftaten angeklagt war, freigesprochen.

Im Dezember 2023 umfasste die vom Föderalen Finanzüberwachungsdienst erstellte Liste der «Terrorist*innen und Extremist*innen» 13‘647 Personen, von denen 11‘286 als «Terrorist*innen» bezeichnet wurden. Die Aufnahme in diese Liste, die ohne jegliche gerichtliche Überprüfung erfolgt, führt zum Einfrieren von Bankkonten und beschränkt die monatlichen Ausgaben auf 10‘000 Rubel (etwa 100 Euro). Dies stellt diejenigen, die auf der Liste stehen, vor erhebliche Herausforderungen, um auch nur den grundlegenden Lebensstandard aufrechtzuerhalten.

Besorgniserregende Zunahme von Gerichtsverfahren

Allein in den ersten sechs Monaten des Jahres 2023 haben russische Gerichte 39 Personen der Begehung oder Planung von Terroranschlägen für schuldig befunden, mehr als in jedem anderen Jahr des letzten Jahrzehnts. Viele der jüngsten Terrorismusanklagen richteten sich gegen Personen, die gegen den Krieg oder die militärische Mobilisierung protestiert hatten, indem sie «Molotowcocktails» auf Einberufungszentren und andere offizielle Gebäude warfen. Die Einstufung zumindest einiger dieser Taten, bei denen keine Gefahr schwerer Verletzungen bestand, als «Terrorismus» lässt befürchten, dass die russischen Behörden diese Anklagen missbrauchen.

Die Ausweitung der russischen Anti-Terrorismus- und Anti-Extremismus-Gesetze, einschliesslich der Kriminalisierung der «Rechtfertigung von Terrorismus» im Jahr 2006 und des Vorschlags von 2023, die «Rechtfertigung von Extremismus» unter Strafe zu stellen, verwischt die Grenzen zwischen Terrorismus und Extremismus, die beide im internationalen Recht nicht genau definiert sind und häufig als Waffe eingesetzt werden, um abweichende Meinungen zu unterdrücken.

Zu den Gruppen und Organisationen, die willkürlich als «extremistisch» eingestuft wurden, gehören die Zeugen Jehovas, die Anti-Korruptionsstiftung des jüngst in einem Straflager verstorbenen Aleksej Nawalny, die Jugendprotestgruppe Vesna und in jüngster Zeit und auf bizarre Weise die unspezifische «internationale LGBT-Bewegung» (die die russischen Behörden offenbar als Organisation betrachten).

Nach dem vollständigen Einmarsch Russlands in die Ukraine reichten Sympathiebekundungen für die Ukraine für strafrechtliche Verfolgungen aus.

Hunderte von Personen wurden der «Rechtfertigung des Terrorismus» für schuldig befunden, weil sie über bestimmte Aktionen oder Einrichtungen, die von den russischen Behörden willkürlich als «terroristisch» eingestuft wurden, diskutiert oder ihre Sympathie dafür bekundet hatten. Nach dem vollständigen Einmarsch Russlands in die Ukraine reichten Sympathiebekundungen für die Ukraine – wie etwa die Freude über militärische Erfolge oder die Unterstützung der aus russischen Freiwilligen bestehenden ukrainischen Militäreinheiten – für derartige strafrechtliche Verfolgungen aus.

«Angesichts dieser Erkenntnisse fordert Amnesty International eine gründliche Überarbeitung der russischen Antiterror- und Antiextremismusgesetze, um sie an internationale Menschenrechtsstandards anzupassen, die Kriminalisierung friedlichen Dissenses zu verhindern und die Grundrechte zu schützen. Wir fordern die internationale Gemeinschaft auf, diese Missstände in allen relevanten Foren anzusprechen, sich für die Rechte derjenigen einzusetzen, die zu Unrecht verfolgt werden, und diese Praktiken im Umgang mit russischen Partner*innen zu berücksichtigen, auch bei Initiativen zur Terrorismusbekämpfung».