Aus Angst nach Afghanistan zurückgeschickt zu werden, versucht eine afghanische Familie mit vier Kindern derzeit im Kanton Zug, sich gegen die Rückführung aus der Schweiz nach Norwegen zu wehren. Denn Norwegen hatte ihr Asylgesuch abgelehnt und verfolgt eine sehr harte Ausschaffungspraxis. Anders als die Schweiz hat Norwegen auch schon Familien in das Bürgerkriegsland zurückgeschickt.
Da die Familie bereits in Norwegen registriert ist, trat das Staatssekretariat für Migration SEM mit Verweis auf das Dublinabkommen nicht auf ihr Asylgesuch in der Schweiz ein. Anfang Oktober brachte die Polizei die Familie an den Flughafen. Doch die Eltern weigerten sich ins Flugzeug zu steigen. Dann griffen die Behörden mit aller Härte durch.
Familie auseinandergerissen
Erst kam die ganze Familie für eine Nacht in Haft, dann wurde sie auseinandergerissen. Der Vater wurde in die Strafanstalt in Zug gesetzt, die Mutter mit dem vier Monate alten Baby ins Flughafengefängnis Kloten. Die drei anderen Kinder im Alter von 3, 5 und 8 Jahren wurden auf Geheiss der Zuger Kindes- und Erwachsenschutzbehörde KESB in einem Heim fremdplatziert – dies obwohl Verwandte in der Schweiz sich um sie hätten kümmern können.
Durch die Trennung wird eine schwere Traumatisierung der Kinder in Kauf genommen. Dennoch bestätigte das Verwaltungsgericht in Zug am 17. Oktober das Vorgehen und beliess die Eltern in Haft.
Verletzung der Kinderrechte
Amnesty Schweiz fordert jetzt eine unabhängige Untersuchung. Sie soll Klarheit darüber bringen, ob die Zuger Behörden in dem Fall rechtmässig gehandelt haben. Die KESB ist eine Kinderschutzbehörde und hat den Auftrag, im Interessen des Kindes zu handeln. Anstatt das Vorgehen des Migrationsamtes kritisch und rechtlich zu hinterfragen, nahm sie den Eltern das Recht weg, über den Aufenthalt ihrer Kinder zu entscheiden und gab ihre Verantwortung an das Migrationsamt ab. In der Untersuchung muss geklärt werden, warum die KESB in diesem Fall so gehandelt hat und inwiefern dies mit der Uno-Kinderrechtskonvention konform sein soll.
Fragwürdig ist insbesondere die Tatsache, dass die Kinder trotz eines breiten Bezugsnetzes in der Schweiz – u.a. lebt die Grossmutter hier – fremdplatziert wurden und warum den Eltern während Tagen eine de facto Kontaktsperre zu ihren Kindern auferlegt wurde, womit eine Traumatisierung von Kindern und Eltern in Kauf genommen wurde. Laut Uno-Kinderrechtskonvention muss selbst strafgefangenen Eltern ein Besuchsrecht garantiert werden.
Besonders gravierend ist, dass die KESB auch den Verzicht auf eine Kindesvertretung verfügte und damit die Kinder um die Möglichkeit brachte, juristischen Beistand zu erhalten, zumal es um die Unterbringung der Kinder ging und mehrere enge Verwandte der Kinder mit gefestigtem Aufenthaltsstatus in der Schweiz leben.
Amnesty fordert, dass einer Rückführung nach Norwegen eine kinderärztliche und psychologische Abklärung vorausgehen muss. Zudem muss sichergestellt sein, dass eine erforderliche Behandlung in Norwegen sichergestellt ist. Die Rückführung sollte zudem ausgesetzt werden, solange nicht klar ist, ob der Familie in Norwegen ein Beschwerderecht gegen den Wegweisungsentscheid nach Afghanistan garantiert wird.
Zug ist kein Einzelfall
Das Vorgehen der Behörden im Fall der Zuger Familie ist besonders hart und unmenschlich. Es ist jedoch kein Einzelfall. Menschrechtsorganisationen, FlüchtlingshelferInnen und AnwältInnen beobachten seit geraumer Zeit eine zunehmend restriktive Politik der Schweizer Behörden bei Dublin-Rückführungen. Immer wieder kann Amnesty International beobachten, dass andere Länder bei der Überstellung von Familien äusserst zurückhaltend sind und deren familiären Bezugsnetz Rechnung tragen.
Im Jahre 2012 stand die Schweiz an der Spitze ganz Europas, mit 4637 Dublin-Überstellungen, während Deutschland als zweites Land nur gerade etwa mehr als 3000 Überstellungen verzeichnete. 2013 blieb die Anzahl hoch. Nach einem Rückgang in den Jahren 2014 und 2015, der auf Schwierigkeiten mit Italien zurückzuführen war, hat die Anzahl Rückführungen 2016 wieder stark zugenommen und die Schweiz steht weiter an der europäischen Spitze.
Auch alleinerziehende Frauen mit kleinen Kindern, Asylbewerbende mit Behinderungen oder unbegleitete Minderjährige werden zur Ausreise gezwungen. Dabei werden die Vorgaben der Uno-Kinderrechtskonvention, der Uno-Behindertenrechtskonvention oder das Menschenrecht auf Familie regelmässig übergangen.