Das Bundesgericht in Lausanne. © Norbert Aepli / Wikicommons
Das Bundesgericht in Lausanne. © Norbert Aepli / Wikicommons

Dublin-Haft verstösst gegen EMRK Bundesgericht urteilt für Flüchtlingsfamilie

Medienmitteilung 16. Mai 2017, London/Bern – Medienkontakt
Die Zuger Behörden haben mit der Inhaftierung eines abgewiesenen afghanischen Ehepaars und der Fremdplatzierung der Kinder in einem Heim gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstossen. Das Bundesgericht hat eine Beschwerde der Flüchtlingsfamilie wegen Verletzung des Rechts auf Privat- und Familienleben gemäss Art. 8 EMRK gutgeheissen. Damit sind der Dublin-Haft in der Schweiz künftig klare Grenzen gesetzt.

«Das Bundesgericht hat ein wegleitendes Urteil gefällt», sagt Denise Graf, Asylrechtsexpertin bei Amnesty International: «Dublin-Haft mit Trennung der Kinder von den Eltern, um eine Ausschaffung zu erzwingen, wird es in Zukunft in der Schweiz hoffentlich nicht mehr geben.» Eine solche drastische Massnahme ist gemäss Urteil des Bundesgerichts nur als «ultima ratio» rechtens, wenn alle Alternativen – etwa eine gemeinsame Unterbringung in einer Wohnung – unmöglich seien.

«Die dreiwöchige Inhaftierung der Eltern und Fremdplatzierung von drei ihrer Kinder, zeitweise begleitet von einer Kontaktsperre, war eindeutig widerrechtlich», sagt der Anwalt der Familie, Guido Ehrler.

«Der Kanton Zug ist zudem nur haarscharf einer Rüge wegen unmenschlicher und erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK entgangen».

Ausschaffung mit aller Härte

Die afghanische Familie war im Mai 2016 in die Schweiz eingereist, wo verschiedene enge Verwandte der Mutter leben. Da sie allerdings zunächst über Russland nach Norwegen eingereist waren und dort um Asyl ersucht hatten, erachtete das Staatssekreteriat für Migration SEM gemäss der Dublin-Verordnung Norwegen für das Asylverfahren zuständig und ordnete die Wegweisung an.

Weil sich die Mutter weigerte, freiwillig nach Norwegen zurückzukehren, von wo aus sie eine Rückschaffung nach Afghanistan befürchtete, verhaftete die Zuger Polizei das Ehepaar am 3. Oktober. Die Behörden hatten ihnen einen Umzug vom Durchgangszentrum in eine Wohnung vorgetäuscht, weshalb die Familie mit der vier Monate alten Tochter und den drei Kindern im Alter von drei, sechs und acht Jahren die Koffer bereits gepackt hatte. Nach einer Nacht in einem Zuger Gefängnis wurden sie am folgenden Tag um vier Uhr morgens an den Flughafen Zürich gebracht, wo sie eine Linienmaschine nach Oslo nehmen sollten. Die Behörden händigten der Familie jedoch nicht alle Identitätspapiere der Kinder aus, daraufhin weigerte sich der Vater das Flugzeug zu betreten.

Was folgte, war ein hartes Durchgreifen der Behörden, das gemäss Bundesgericht die Schwelle einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK «knapp noch nicht erreicht».

Alternativen wurden nicht geprüft

Das Zuger Migrationsamt brachte die beiden Eltern und ihr viermonatiges Kleinkind in zwei unterschiedlichen Administrativgefängnissen unter. Die Kinder wurden in Zusammenarbeit mit der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde KESB fremdplatziert. Eine alternative Lösung zur Inhaftierung der Eltern und Trennung von den Kindern wurde von den Zuger Behörden erst gar nicht geprüft, wie das Bundesgericht in seinem Urteil kritisiert. Am 25. Oktober 2016 wurde die Familie schliesslich mit einem Spezialflug nach Norwegen ausgeschafft.

Dieses Urteil des Bundesgerichts ist wegleitend und für alle Kantone verbindlich.

Familien dürfen im Rahmen des Vollzugs von Dublin-Entscheiden nur als allerletztes Mittel und nach einer gründlichen Evaluation sämtlicher anderer Möglichkeiten getrennt werden. Die Migrationsämter und die Kinderschutzbehörden müssen alles daran setzen, um die Kinderrechte auch in der Schweiz umzusetzen und das Recht auf Familienleben zu schützen.

«Im Fall Zug willigte die KESB trotz ihrer Pflicht, als Hüterin der Kinderrechte für das übergeordnete Kindeswohl einzustehen, ein und platzierte die Kinder in zwei verschiedenen Heimen (nacheinander) und ohne einen Beistand für die Kinder zu ernennen. Dies kommt einer doppelten Verletzung der Uno-Kinderrechtskonvention gleich», sagt Denise Graf.

Auf der Ebene des Vollzugs habe das SEM zudem dafür zu sorgen, dass alle von den Gesuchstellern abgegebenen Unterlagen rechtzeitig bei den zuständigen kantonalen Behörden eintreffen. Es ist ein Recht jeder asylsuchenden Person, die von ihr abgegebenen Ausweise in ihrer Gesamtheit zurückzuerhalten. Die Familie sei zudem für das Verfehlen der Zuger Behörden angemessen zu entschädigen.

Gegen die sture Anwendung der Dublin-Verordnung

«Der Fall zeigt, mit welcher Härte heute bei der Ausschaffung vorgegangen wird. Die Dublin-Verordnung wird viel zu strikt angewandt», sagt Denise Graf. So hätte die Schweiz im vorliegenden Fall aus humanitären Erwägungen auf dieses Asylgesuch eintreten können, da sich die Mutter der Asylbewerberin, zwei Geschwister und mehrere andere Familienmitglieder (Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen) in der Schweiz aufhalten und grösstenteils die Schweizer Staatsbürgerschaft haben.

Amnesty International ruft die Behörden dazu auf, die Dublin-Verordnung in der Schweiz grosszügig zu handhaben. In einem nationalen Appell fordert Amnesty International gemeinsam mit den Organisationen Solidarité Tattes, Collectif R, Solidarité sans frontières, Droit de Rester und der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom Bundesrat, dass die Schweiz in Härtefällen und / oder aus humanitären Gründen vermehrt selbst auf Asylgesuche eintritt.

Dublin-Rückschaffungen sollen vermieden werden, wenn Asylsuchende für Kleinkinder oder bereits eingeschulte Kinder verantwortlich sind, Familienangehörige haben, die bereits in der Schweiz leben, im Ausland nicht ausreichend medizinisch betreut werden können oder einen sogenannten Härtefall darstellen. Die kantonalen Behörden sollen zudem beim Vollzug von Dublin-Rückschaffungen internationales Recht und insbesondere die Uno-Kinderrechtskonvention respektieren.

 

Die Schweiz steht bei den Dublin-Rückführungen an der Spitze Europas. In den vergangenen acht Jahren (Anfang 2009 bis Ende 2016) hat sie 25‘728 Personen in ein anderes europäisches Land zurückgeschickt, das entspricht 13.6 % aller Asylsuchenden, die in die Schweiz gekommen sind. Im Vergleich dazu: in Deutschland betrifft das nur drei Prozent der Asylsuchenden.