Flavie Bettex in Begleitung ihres Rechtsanwalts. © Amnesty International
Flavie Bettex in Begleitung ihres Rechtsanwalts. © Amnesty International

Schweiz Flüchtlingshelferin freigesprochen

Medienmitteilung 18. September 2018, London/Bern – Medienkontakt
Das Bezirksgericht Lausanne hat die Verurteilung einer jungen Frau aufgehoben, die eine Wohnung an einen abgewiesenen iranischen Asylbewerber untervermietet hatte. Amnesty International begrüsst diese Entscheidung. Die Menschenrechtsorganisation warnt vor einem besorgniserregenden Trend zur Kriminalisierung von Migranten- und Flüchtlingsrechtshelfern in der Schweiz.

Der Freispruch von Flavie Bettex durch das Lausanner Gericht ist eine wichtige Entscheidung. Sie zeigt, dass die Unterbringung einer Person aus Solidarität und ohne persönliche Vorteile oder Beeinträchtigung der Arbeit der Asylbehörden nicht strafbar ist. Bei der Untervermietung ihrer Wohnung an einen Asylbewerber, der von der Nothilfe lebte, hatte sie sogar mit der Zustimmung der zuständigen Behörde – Etablissement vaudois d'aide aux migrants (EVAM) – gehandelt und keinen materiellen Vorteil daraus gezogen. Sie behinderte zu keinem Zeitpunkt die Arbeit der Asylbehörden.

Umso unverständlicher war die erste Verurteilung der jungen Frau. Die Waadtländerin war wegen Verstosses gegen Artikel 116 des Ausländergesetzes – «Anstiftung zur rechtswidrigen Ein- oder Ausreise oder den rechtswidrigen Aufenthalt in der Schweiz» – verurteilt worden.

Der iranische Asylbewerber, dessen Asylantrag abgelehnt worden war, litt unter medizinischen Problemen und konnte nicht in einem Heim untergebracht werden. Auch eine Ausweisung in den Iran war unmöglich. Deshalb bot die 27-jährige ihm eine Wohnung zur Untermiete an. Der abgewiesene Asylbewerber wurde finanziell vom EVAM unterstützt, das die Miete für die Wohnung bezahlte. Die junge Frau handelte in gutem Glauben und hatte keinen Grund, davon auszugehen, dass ihr Vorgehen rechtswidrig war, da die Behörden über die Untervermietung informiert waren.

Fast 800 Verurteilungen im Jahr 2017

Der Fall von Flavie Bettex ist nicht einzigartig. Amnesty International ist besorgt über die Kriminalisierung von Menschen, die die Rechte von Migranten, Migrantinnen und Flüchtlingen in Europa verteidigen. Insbesondere in der Schweiz wurden in letzter Zeit in den Medien mehrere Fälle publik, in denen Menschen aufgrund ihrer Solidarität mit Flüchtlingen und MigrantInnen bestraft wurden.

Es scheint, dass diese Fälle nur die Spitze des Eisbergs sind. Statistiken zeigen, dass im vergangenen Jahr fast 800 Personen wegen der Erleichterung der illegalen Ein-, Ausreise oder des rechtswidrigen Aufenthalts eines Ausländers verurteilt wurden. Viele von ihnen bezahlten Bussen, ohne Rekurs einzulegen. Amnesty ist besorgt über die grosse Zahl solcher Verurteilungen.

Wiedereinführung einer Nicht-Strafbarkeitsklausel

Mit dem Inkrafttreten der Revision des Ausländergesetzes wurde 2008 die Klausel aus «ehrenwerten Gründen» aufgehoben. Neu wurde Artikel 116 eingeführt. Demnach macht sich strafbar, «wer im In- oder Ausland einer Ausländerin oder einem Ausländer die rechtswidrige Ein- oder Ausreise oder den rechtswidrigen Aufenthalt in der Schweiz erleichtert oder vorbereiten hilft.»

Amnesty fordert das Parlament auf, das Gesetz zu überprüfen, damit Bürger und Bürgerinnen, die solidarisch handeln, um die Rechte von Migrantinnen, Migranten und Flüchtlingen zu schützen, nicht verfolgt werden. Die Schweizer Behörden müssen Menschenhändler, Schmugglerinnen und jeden, der die Notlage von Menschen ausbeutet, verfolgen, nicht aber Bürgerinnen und Bürger, die die Grundrechte anderer verteidigen.

Dieser besorgniserregende Trend zur Kriminalisierung von Migranten- und FlüchtlingsrechtshelferInnen steht im Widerspruch zu den nationalen und internationalen Verpflichtungen der Schweiz zum Schutz von Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern. Amnesty International fordert die Schweizer Behörden auf, die Solidarität mit MigrantInnen und Flüchtlingen in unserem Land zu fördern und nicht zu bestrafen.