Dublin: ein immer bürokratischeres, aber ineffizientes System, das menschliches Leid verursacht
Das Abkommen von Dublin wurde oft als ein System der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit gepriesen, die Wirklichkeit sieht anders aus: Anstatt Zusammenarbeit und Solidarität befördert die Dublin-Verordnung eine Jeder-für-sich-Mentalität, bei der die Staaten die Fluchtrouten der Asylsuchenden nachverfolgen, um möglichst viele Personen in andere Länder abzuschieben, ohne Rücksicht darauf, dass diese Rückschaffungen enormes Leid bewirken. In den letzten zehn Jahren gehörte die Schweiz eindeutig zu den Champions der Rückschaffungen und zu den «Profiteuren» des Dublin-Systems. In der Tat hat sie gesamthaft viereinhalb Mal mehr Menschen in andere Dublin-Staaten zurückgeschafft als aus diesen übernommen. 2017 und 2018 ist dann die Differenz zwischen der Zahl der abgeschobenen und der aus anderen Dublin-Staaten rückübernommenen Personen deutlich zurückgegangen, die Zahl der Überstellungen blieb aber weiterhin hoch. Ein Zeichen für die allgemeine Ineffizienz des Systems: ein enormer und mit hohen Kosten einhergehender bürokratischer Aufwand, der letztlich zu einem Nullsummenspiel führt, das ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse, den Willen und die Rechte der Menschen auf der Flucht ausgetragen wird.
Trotz Mobilisierung der Zivilgesellschaft schafft die Schweiz nach wie vor besonders verletzliche Personen zurück
Am 20. November 2017 haben 200 Organisationen der Zivilgesellschaft und mehr als 33'000 Personen mit ihrem Appell gegen die sture Anwendung der Dublin-Verordnung vom Bundesrat verlangt, bei besonders verletzlichen Personen von einer Rückschaffung abzusehen und auf deren Asylgesuch einzutreten. 2018 hat die Dublin-Koalition in rund 90 Fällen das Staatssekretariat für Migration (SEM) warnend darauf aufmerksam gemacht, dass es sich bei einer drohenden Abschiebung um besonders verletzliche Menschen handelt. Dank dem Engagement der Zivilgesellschaft konnten so mehrere Rückschaffungen verhindert werden. Aber sehr oft hat sich das SEM auch uneinsichtig gezeigt. So wurde etwa im November eine schwangere Frau aus Eritrea, an Tuberkulose leidend und mit nur 42 Kilo schwer untergewichtig, nach Italien ausgeschafft. Ein syrisches Ehepaar mit einem körperlich behinderten Kind wurde auseinandergerissen und der Vater gemäss Dublin-Verordnung ausgeschafft, obgleich die Mutter psychisch angeschlagen ist und mehrere Angehörige der Familie in der Schweiz leben. Manchen Menschen wird erst nach einem langen juristischen Kampf, einer Verschlechterung des Gesundheitszustands mit mehreren Spitalaufenthalten oder einem «Untertauchen» bis zum Verstreichen der Dublin-Frist die Prüfung des Asylgesuchs in der Schweiz zugestanden. Die Koalition hinter dem Dublin-Appell ist besonders in Sorge ob der Lage von Menschen, die Opfer von Menschenhandel oder Folter sind, von kranken Personen, deren in der Schweiz mühsam etabliertes therapeutisches Vertrauensverhältnis durch eine Rückschaffung zerstört wird, von Frauen und minderjährigen Kindern, oder von Familien, die durch eine Abschiebung auseinandergerissen werden. Die Koalition hatte die Gelegenheit, ihre Beobachtungen den Uno-Sonderberichterstattern über Folter und über die Rechte von MigrantInnen vorzutragen und sie zu bitten, beim SEM vorstellig zu werden, damit es besonderes verletzlichen Menschen besser Rechnung trägt.
Die Lage in Italien spitzt sich zu: Die Schweiz muss die Mängel des dortigen Asylsystems beachten
Am 3. August 2018 hat das Komitee gegen Folter der Uno eine wichtige Entscheidung erlassen (Verlautbarung N 742/2016): Die Rückschaffung eines Folteropfers nach Italien würde gegen das Verbot von Misshandlungen und gegen das Non-Refoulement-Prinzip verstossen. Seither wurden die ohnehin schon prekären Aufnahmebedingungen in Italien noch durch das Dekret Salvini vom 5. Oktober 2018 verschärft, dem die Abgeordnetenkammer Ende November zugestimmt hat. Es besagt, dass Asylsuchende, inklusive der Personen, die aufgrund der Dublin-Verordnung wiederaufgenommen werden müssen, keinen Zugang mehr zu besonderen Zentren für verletzliche Personen (SPRAR) haben sollen, sondern allgemeinen Zentren (CAS) zuzuweisen sind. Als Reaktion auf dieses Dekret haben am 18. Oktober 2018 in den Niederlanden zwei Gerichtsurteile die Rückschaffung von zwei Eritreerinnen nach Italien gestoppt, weil die Aufnahmebedingungen nicht mehr europäischem Recht entsprechen würden. Weitere Urteile in Frankreich und Luxemburg betonen die «systemischen Mängel» im italienischen Asylwesen und verweisen ebenfalls auf die momentan sehr schwierige innenpolitische Lage Italiens. Der gerade veröffentlichte Monitoring-Bericht (PDF, 36 Seiten englisch) der Schweizerischen Flüchtlingshilfe weist ebenfalls auf die schweren Folgen bei Rückführungen von besonders verletzlichen Personen nach Italien hin. Es ist deshalb unabdingbar, dass die Schweiz ebenfalls ihre Praxis ändert und vermehrt auf die Asylgesuche von besonders verletzlichen Asylsuchenden eintritt, die durch Italien gereist sind.
Restrukturierung des Asylsystems: Das SEM muss die Identifizierung von besonders verletzlichen Personen sicherstellen
Ab dem Inkrafttreten der Restrukturierung des Asylsystems im März 2019 werden die Asylgesuche in einem beschleunigten Verfahren in den Bundesasylzentren behandelt werden. Es ist deshalb dringend, dass das SEM standardisierte Verfahren und eine angemessene Ausbildung des Personals einführt, damit dieses die nötigen Instrumente und Mittel erhält, um besonders verletzliche Asylsuchende zu identifizieren. Das ist unerlässlich, um diesen Menschen einen angemessenen Schutz zukommen zu lassen, die Souveränitätsklausel in der Dublin-Verordnung anzurufen und somit auf die Asylgesuche der Betroffenen eintreten zu können.
Unterzeichnende Organisationen
Amnesty International Schweiz, Schweizerische Flüchtlingshilfe SFH, Solidarité sans frontières, Solidarité Tattes, Collectif R, Droit de rester Neuchâtel