Lisa Bosia Mirra. © Sarah Bittel
Lisa Bosia Mirra. © Sarah Bittel

Urteil im Berufungsprozess gegen Lisa Bosia Mirra Reduktion des Strafmasses ist ungenügend: Solidarität ist kein Verbrechen!

Medienmitteilung Locarno / Bern 31. Oktober 2019  – Medienkontakt
Das Appellationsgericht des Kantons Tessin in Locarno hat die harte Strafe für die Flüchtlingshelferin Lisa Bosia Mirra reduziert, die ehemalige Kantonsparlamentarierin allerdings nicht von allen Vorwürfen freigesprochen. Sie hatte im Sommer 2016 20 Personen – die meisten davon unbegleitete Minderjährige aus Eritrea und Syrien – geholfen, die Grenze zwischen Italien und der Schweiz zu überqueren. Amnesty Schweiz hält die Reduktion des Strafmasses für ungenügend.

In Folge des Berufungsprozesses vom 10. September sprach das Gericht in Locarno Lisa Bosia Mirra vom Vorwurf der Begünstigung des illegalen Aufenthalts frei. Die Geldstrafe wurde von 8000 auf 2000 Franken reduziert, eine Busse von 1000 Franken annulliert, wie aus dem heute publik gewordenen Urteil hervorgeht. Die Strafe wegen Beihilfe zum illegalen Grenzübertritt wurde dagegen bestätigt. Die sozialdemokratische Politikerin wird das Urteil vor Bundesgericht anfechten.

«Das Appellationsgericht hat in seinem Urteil bestätigt, dass es nicht strafbar ist, einen Menschen ohne Aufenthaltsberechtigung ein paar Tage zu beherbergen. Auch darf man einem Menschen in Not Nahrung anbieten und einer ausländischen Person ohne gültige Papiere, die die Grenze überschreiten will, mit medizinischer Hilfe oder juristischer Beratung zur Seite stehen», sagt Reto Rufer, Asylrechtsexperte bei Amnesty Schweiz.

«Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Aber es bleibt dennoch beim Eintrag im Strafregister. Lisa Bosia Mirra ist weder eine Schlepperin noch eine Kriminelle. Sie hat in der Notlage des Sommers 2016 allein aufgrund ihres Gewissens und ihrer Überzeugungen gehandelt. Ihr Anlass war die Verzweiflung der Jugendlichen, die sie am Bahnhof von Como unter erbärmlichen Umständen traf, und deren Rechte durch die schweizerischen und italienischen Behörden verletzt wurden.»

«Diverse Artikel des Strafgesetzbuches sehen die Möglichkeit vor, die Strafe zu verringern oder aufzuheben, wenn der/die Beschuldigte eine andere Person aus einer unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leib und Leben retten wollte und/oder aus achtenswerten Beweggründen handelte. Dennoch haben die Justizbehörden Lisa Bosia Mirra nicht freigesprochen. Kantonale Gerichte sollten vollständig damit aufhören, Personen strafrechtlich zu verfolgen, die sich für die Rechte von Menschen auf der Flucht einsetzen», so Reto Rufer.

«Umso dringender wäre es, den Tatbestand der ‘Beihilfe zur illegalen Einreise und zum illegalen Aufenthalt’ so anzupassen, dass Hilfeleistung aus achtenswerten Beweggründen von einer Bestrafung ausgenommen wird. National- und Ständerat werden demnächst über eine entsprechende parlamentarische Initiative befinden.»

Eine katastrophale Situation am Tor zur Schweiz

Lisa Bosia Mirra hatte sich im Sommer 2016 an vorderster Front für die Rechte von Migrantinnen und Migranten im italienischen Como eingesetzt. Tausende von Geflüchteten waren dort auf dem Weg nach Norden gestrandet und mussten über Wochen im Freien übernachten. Mit ihrem Verein Firdaus organisierte sie die tägliche Verteilung von Lebensmitteln und Kleidung und sorgte für ein Minimum an Rechtshilfe, insbesondere für unbegleitete Minderjährige und weitere besonders verletzliche Menschen.

Die prekäre Situation in Como wurde durch schwere Verletzungen der Grundrechte durch die italienischen und schweizerischen Behörden verschärft. Italien war nicht in der Lage, die Gesundheitsversorgung und Unterstützung von unbegleiteten Minderjährigen und weiteren besonders verletzlichen Personen zu gewährleisten, da die verfügbaren Einrichtungen überall überfüllt waren.

«Und auch die Schweiz hat damals gegen die Rechte von Minderjährigen verstossen. Im Sommer 2016 schickten die Schweizer Grenzschutzbeamten regelmässig Minderjährige, die an die Grenze um Asyl ersuchten, nach Italien zurück, selbst dann, wenn sie erklärten, Familienangehörige in der Schweiz zu haben», ruft Reto Rufer in Erinnerung. «Grenzwächter haben zudem verhindert, dass Minderjährige durch die Schweiz reisen, um zu ihren Familien in Deutschland oder anderswo in Europa zu gelangen. Damit hat die Schweiz neben den Kinderrechten auch die Regeln zur Familienzusammenführung der Dublin-Verordnung verletzt.»

Die Zivilgesellschaft mobilisiert sich

Mit einer Petition fordern Amnesty International und Solidarité sans frontières eine Überprüfung der Gesetze zur Begrenzung und Bestrafung der Solidarität mit Migrantinnen und Migranten und Menschen auf der Flucht. Insbesondere fordern die beiden Organisationen Parlamentarierinnen und Parlamentarier auf, die parlamentarische Initiative 18.461 «Solidarität nicht mehr kriminalisieren» zu unterstützen: Diese will Artikel 116 des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) so anpassen, dass Personen, die Hilfe leisten, sich nicht strafbar machen, wenn sie dies aus achtenswerten Gründen tun.

Ein Aufruf zur Änderung des geltenden Gesetzes wird auch von 134 Anwältinnen und Anwälten mitgetragen, die sich der Kampagne zur Änderung des Artikels 116 angeschlossen haben.