Amnesty International hatte sich 2016 für das neue, beschleunigte Asylverfahren ausgesprochen. Ausschlaggebend waren für die Menschenrechtsorganisation die Neueinführung einer staatlich finanzierten Beratung und Rechtsvertretung für alle Asylsuchenden. Dies sieht die Menschenrechtsorganisation weiterhin als grossen Fortschritt. Für eine umfassende Bilanz über das gesamte neue Verfahren ist es indes noch zu früh: Zahlreiche Prozesse und Abläufe sind noch in Be- und Erarbeitung, dies insbesondere auch im komplexen Zusammenspiel der diversen Akteure, die in den Bundesasylzentren im eng getakteten Verfahren zusammenspielen (Staatsekretariat für Migration SEM, Leistungserbringer Betreuung sowie Sicherheit, mandatierte Rechtsvertretung, Kantone und Gemeinden).
(Zu) eng getaktetes Verfahren und rigides Regime in den Zentren
Aufgrund eigener Besuche in einigen Bundesasylzentren (BAZ) sowie von Rückmeldungen von BewohnerInnen und seitens zivilgesellschaftlicher Akteure erachtet Amnesty jedoch die folgenden Aspekte im Verfahren und im Betrieb der Zentren als problematisch:
- Im Vergleich mit dem Testbetrieb in Zürich zeigt sich, dass das SEM in den jetzigen BAZ ein strikteres Regime führt, welches stark auf Kontrolle und Sicherheit ausgerichtet ist. Den BewohnerInnen bleibt nur wenig Spielraum, ihren Alltag autonom zu gestalten. Die Eingriffe in die Privatsphäre im Namen der Sicherheit sind erheblich (regelmässige Durchsuchungen der Schlafräume, teilweise auch nachts und ohne vorheriges Klopfen, Leibesvisitationen bei jedem Eintritt ins BAZ, regelmässig auch im Falle von Kindern und Babys). Amnesty ist immer wieder mit Klagen konfrontiert betr. groben und/oder abschätzigen Auftretens von Mitarbeitenden der Leistungserbringer Sicherheit (Securitas, Protectas etc.) gegenüber von Asylsuchenden. Zusätzliche Investitionen in die spezifische Ausbildung und Vorbereitung der Mitarbeitenden der Leistungserbringer im Sicherheitsbereich für eine Aufgabe, die sich von üblichen Einsätzen solcher Sicherheitsunternehmen ganz erheblich unterscheidet, könnten hier einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung leisten.
- Das eng getaktete Verfahren mit sehr kurzen Fristen stellt hohe Anforderungen an alle Beteiligten: Die vergleichsweise häufigen Rückweisungsentscheide durch das Bundesverwaltungsgericht zeigen, dass die Beschleunigung noch zu oft zu Lasten einer sorgfältigen Sachverhaltsermittlung geht. Dies könnte einerseits daran liegen, dass das SEM viele Verfahren weit schneller durchgeführt hat als gesetzlich vorgeschrieben (die mittlere Verfahrensdauer betrug nur 50 Tage) und nur einen geringen Anteil von Fällen im erweiterten Verfahren behandelt hat (19% statt wie geplant rund 40%). Andererseits besteht noch kein verlässliches Konzept für die systematische und proaktive Erkennung von spezifischen Verletzlichkeiten (Traumata, medizinische Probleme, LGBTI*-Flüchtlinge etc.), und in einigen Asylregionen fehlt es auch am Zugang zu Ärztinnen und Ärzten, welche in der gegebenen kurzen Frist medizinische Abklärungen von asylrechtlicher Relevanz vornehmen können. Im Zuge einer Gesamtevaluation des neuen Verfahrens müsste eingehend geprüft werden, ob die Zeitspanne für die einzelnen Verfahrensschritte und allenfalls auch die 7-tägige Beschwerdefrist im beschleunigten Verfahren nicht um einige Tage verlängert werden müssten.
- Mittelfristig könnte eine Gefahr im neuen Asylverfahren darin liegen, dass ein weitgehend abgeschlossenes System entsteht: Der Zeitdruck in einem eng getakteten Verfahren fördert standarisierte Abläufe und Routine. Der Ansatz, aus Effizienzgründen alle Akteure unter einem Dach zusammen zu bringen, führt dazu, dass sich diese mit der Zeit immer besser kennen und von den Asylsuchenden zunehmend als eine einzige Instanz wahrgenommen werden könnten. Amnesty ist deshalb der Ansicht, dass der Zugang externer – auch kritischer - Akteure aus der Zivilgesellschaft möglichst offen gehandhabt werden sollte: Der Blick von aussen erfüllt unter diesen Umständen eine besonders wichtige Monitoring-Funktion, und der Austausch mit der Wohnbevölkerung im Umfeld der Zentren kann einen wichtigen Beitrag zur besseren Akzeptanz des Asylverfahrens leisten.
Der Blick über das beschleunigte Verfahren hinaus
Die Art und Weise des Verfahrens ist nur ein Aspekt der Asylpolitik: So stellt Amnesty fest, dass das neue Asylverfahren - wie die Ende Januar 2020 vom SEM publizierte Asylstatistik zeigt - bisher keinen wesentlichen Einfluss auf die Anerkennungs- und Schutzquoten hatte: Der Anteil Asylgewährungen (=Anerkennungsquote) lag mit 31,2% unverändert hoch, ebenso der Anteil Asylgewährungen plus vorläufiger Aufnahmen (=Schutzquote) mit 59,3%. Damit erwiesen sich 2019 auch aus Sicht der Behörden rund 60% aller Asylgesuche als begründet.
Im Fokus auf das neue Verfahren darf auch nicht vergessen werden, dass sich wesentliche Defizite in der Schweizer Asylpolitik unabhängig davon weiter akzentuieren: Die Schweiz tut im europäischen Kontext viel zu wenig, um die unhaltbare Situation von Flüchtlingen und MigrantInnen namentlich in Libyen und auf den griechischen Inseln zu verbessern und den Zugang zu einem fairen Asylverfahren zu sichern, ohne dass die Asylsuchenden lebensgefährliche (und teure) Wege wie über das Mittelmeer auf sich nehmen müssen. Mit der Übernahme von in Libyen oder Griechenland festsitzenden Flüchtlingen oder dem Einsatz für die (Wieder-)Einführung des Botschaftsverfahrens in Europa könnte die Schweiz hier einen wichtigen Beitrag leisten. Zudem setzt die Schweiz nach wie vor auf eine zu rigide Anwendung der Dublin-Verordnung sowie im Falle abgewiesener Asylsuchender auf ein Nothilferegime, welches diese mit unerträglichen Lebensbedingungen und grossem psychischem Druck zur Ausreise auch in Länder wie Afghanistan oder Eritrea bewegen will.