Fast 37'000 Personen und 37 Organisationen unterzeichneten eine entsprechende Petition von Amnesty International, die unter anderem eine Neudefinition von Vergewaltigung im Strafrecht fordert. © Amnesty International
Fast 37'000 Personen und 37 Organisationen unterzeichneten eine entsprechende Petition von Amnesty International, die unter anderem eine Neudefinition von Vergewaltigung im Strafrecht fordert. © Amnesty International

Schweiz Sexualstrafrechtsreform: Enttäuschender Gesetzesentwurf geht in die Vernehmlassung

Medienmitteilung 1. Februar 2021, Bern – Medienkontakt
Der heute in die Vernehmlassung gegebene Entwurf zur Revision des Sexualstrafrechts sieht vor, nicht-einvernehmlichen Geschlechtsverkehr als «sexuellen Übergriff», statt als Vergewaltigung zu ahnden. Amnesty International kritisiert den Vorschlag, den die Bundesverwaltung im Auftrag der Rechtskommission des Ständerats erstellt hat. Er wird den Opfern sexueller Gewalt nicht gerecht und ignoriert die menschenrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz.

Während zwölf europäische Länder nicht einvernehmlichen Geschlechtsverkehr bereits als Vergewaltigung anerkennen, schlägt der heute in die Vernehmlassung gegebene Entwurf vor, einen neuen Straftatbestand «sexueller Übergriff» zu schaffen, der sexuelle Handlungen gegen den Willen einer Person oder durch Überraschung erfassen soll (Art. 187a StGB). Dieser neue, nur als Vergehen definierte Straftatbestand soll gemäss dem Vorschlag mit einer geringeren Strafe geahndet werden als eine Vergewaltigung, die als Verbrechen gilt.

Amnesty International begrüsst zwar die Bereitschaft des Parlaments, das Schweizer Strafgesetzbuch zu reformieren, damit nicht-einvernehmliche sexuelle Handlungen endlich angemessen bestraft werden können. Die Menschenrechtsorganisation kritisiert den vorliegenden Entwurf jedoch scharf:

«Der Gesetzesentwurf ist eine verpasste Gelegenheit, unmissverständlich klarzustellen, dass das grundsätzliche Unrecht nicht in der Nötigung oder der Gewalt liegt, sondern in der Missachtung der sexuellen Selbstbestimmung. Dieses Projekt entspricht nicht den menschenrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz. Insbesondere entspricht der Entwurf nicht der Istanbul-Konvention des Europarats, der auch die Schweiz beigetreten ist», erklärt Cyrielle Huguenot, Kampagnenleiterin für Frauenrechte bei der Schweizer Sektion von Amnesty International.

Indem dieser Gesetzesentwurf nicht-einvernehmliche vaginale, anale und orale Penetrationen als «sexuellen Übergriff» charakterisiert, wird eine Art «unechte Vergewaltigung» geschaffen, die mit einer geringeren Strafe geahndet wird. In einigen Fällen hängt das Strafmass dann vom Verhalten des Opfers ab: Wenn die Täterschaft kein Nötigungsmittel anwenden musste, weil sie einen Zustand der Überraschung oder des Schocks ausnutzte, der das Opfer daran hinderte, sich zu wehren, riskiert sie maximal drei Jahre Gefängnis. Bei einer Vergewaltigung hingegen drohen bis zu zehn Jahre Haft.

«Diese Art, sexueller Gewalt zu begegnen, ist veraltet und verkennt die Realität.» Cyrielle Huguenot, Kampagnenleiterin für Frauenrechte bei der Schweizer Sektion von Amnesty International

«Diese Art, sexueller Gewalt zu begegnen, ist veraltet und verkennt die Realität. Das Signal, das an die Opfer gesendet wird, kann verheerend sein: Wenn sie sich nicht gewehrt haben, wird der Übergriff als weniger schwerwiegend angesehen», kritisiert Cyrielle Huguenot.

Im Gegensatz zu den in der Gesellschaft immer noch verbreiteten Mythen, dass Vergewaltigungen meist von Fremden begangen werden und in einer «dunklen Gasse» stattfinden, ereignet sich der grösste Teil der Übergriffe in Wirklichkeit im privaten Rahmen. Eine natürliche Reaktion der Betroffenen ist ein Schock- oder Lähmungszustand, der als «Freezing» bezeichnet wird. Nur in seltenen Fällen leisten die Opfer körperlichen Widerstand. Die Täterschaft muss oft gar keine Gewalt anwenden, weil sie den Stress- oder Schockzustand des Opfers und das Vertrauensverhältnis ausnutzt.

Um wirklich Gerechtigkeit für die Opfer sexueller Gewalt zu schaffen, fordert Amnesty International das Schweizer Parlament auf, den Gesetzesentwurf zu korrigieren und alle Formen des nicht-einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs als Vergewaltigung zu definieren. Die Straftatbestände Art. 189 (sexuelle Nötigung) und Art. 190 (Vergewaltigung) sollten entsprechend angepasst werden. Diese Forderung wird Amnesty International im Vernehmlassungsverfahren einbringen.

 

Hier finden Sie Fragen und Antworten zur Position von Amnesty International.