Im Sommer 2023 entschied das Staatssekretariat für Migration, dass afghanische Asylbewerberinnen sowohl als Opfer einer diskriminierenden Gesetzgebung als auch als Opfer religiöser Verfolgung betrachtet werden können und ihnen daher im Rahmen einer Einzelfallprüfung der Flüchtlingsstatus zuerkannt werden sollte. Diese Praxis gilt nicht nur in der Schweiz, sondern auch in vielen anderen europäischen Ländern.
«Die Absicht, mit der Taliban-Regierung eine Migrationspartnerschaft aufzubauen, ist höchst zynisch. Die Menschenrechtslage in Afghanistan ist aufgrund zahlreicher dokumentierter Verletzungen nach wie vor prekär. Seit der Machtübernahme durch die Taliban hat sich insbesondere die Situation von Frauen und Mädchen stetig verschlechtert.» Alicia Giraudel, Juristin bei Amnesty Schweiz
Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVGer) vom 22. November bestätigte das Vorgehen des SEM. Das BVGer hielt in seinem Urteil fest, dass die Machtübernahme durch die Taliban und der Abzug der internationalen Truppen «drastische Auswirkungen auf alle Bereiche des Lebens in Afghanistan» hatten, wobei afghanische Frauen und Mädchen «in besonderem Masse gefährdet» seien.
Der National- und Ständerrat werden sich im Rahmen einer Sondersitzung mit der Asylpraxis gegenüber afghanischen Frauen und Mädchen befassen. Die Motionen 23.4247 und 23.4241 verlangen die Aufhebung der aktuellen Praxis des SEM. Ein weiterer Vorstoss 23.4246, der sich auf männliche Afghanen konzentriert, verlangt sogar, dass der Bundesrat Afghanistan als «save country» einstuft und eine Migrationspartnerschaft mit der Taliban-Regierung aushandelt.
Dramatische Situation für Frauen vor Ort
«Diese im National- und Ständerat behandelten Vorlagen haben gemeinsam, dass sie die aktuelle Situation im Land völlig ignorieren. Die Absicht, mit der Taliban-Regierung eine Migrationspartnerschaft aufzubauen, ist höchst zynisch. Die Menschenrechtslage in Afghanistan ist aufgrund zahlreicher dokumentierter Verletzungen nach wie vor prekär. Seit der Machtübernahme durch die Taliban hat sich insbesondere die Situation von Frauen und Mädchen stetig verschlechtert. Sie werden systematisch verfolgt und ihrer Rechte beraubt», stellt Alicia Giraudel, Juristin bei Amnesty Schweiz, fest.
Die Diskriminierung von Frauen und Mädchen in Afghanistan betrifft alle Lebensbereiche. Seit dem Zusammenbruch der Republik haben die Behörden den Rechtsstaat weitgehend ausser Kraft gesetzt und regieren mit extremen Formen der Frauenfeindlichkeit. Die bescheidenen Fortschritte bei der Gleichstellung der Geschlechter der letzten zwei Jahrzehnte wurden zunichte gemacht.
Das Leben von Frauen und Mädchen in Afghanistan wird durch die Missachtung ihrer Menschenrechte zerstört. Frauen, die friedlich gegen diese repressiven Massnahmen protestieren, sind Drohungen, Belästigungen, willkürlichen Verhaftungen und Folter ausgesetzt. Viele Frauen berichten von Gefühlen grosser Angst und Beklemmung. Sie beschreiben ihre Situation als ein Leben unter Hausarrest.
Die Situation vor Ort hat sich nach Naturkatastrophen wie dem Erdbeben im Oktober weiter verschlechtert. Auch im benachbarten Pakistan finden die Flüchtlinge keinen Schutz. Die pakistanischen Behörden verletzen ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen, indem sie Afghan*innen schikanieren, inhaftieren und massenhaft abschieben.
Parlament darf Völkerrecht nicht umgehen
«Die Entscheide des SEM und des BVGer basieren auf aktuellen und detaillierten Analysen der Situation in Afghanistan. Aus rechtsstaatlicher Sicht ist es äusserst problematisch, dass das Parlament die Praxis des SEM ändern soll. Diese stützt sich auf das geltende Völkerrecht und wurde erst kürzlich durch das letztinstanzliche Gericht bestätigt. Das Parlament sollte eine Politik verfolgen, die mit dem Recht vereinbar ist, und nicht das Recht an seine Politik anpassen. Die drei Motionen müssen unbedingt abgelehnt werden und das SEM muss an seiner derzeitigen Asylpraxis für Afghan*innen festhalten», fordert Alicia Giraudel.