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Schweiz Die Zürcher Initiative «zur Durchsetzung von Recht und Ordnung» ist völkerrechtswidrig

Medienmitteilung 7. September 2023, Bern – Medienkontakt
Die Junge SVP hat eine gegen Demonstrant*innen gerichtete Initiative lanciert. Die Initiative verletzt das Recht auf Protest und widerspricht den menschenrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz.

In der Schweiz verdanken wir wichtige Errungenschaften – sei es im Bereich der Frauenrechte, des Klimaschutzes, der Anti-Diskriminierung oder anderen – zu einem grossen Teil Menschen, die für diese Anliegen auf die Strasse gingen. «Das Recht auf Versammlungsfreiheit ist ein zentraler Pfeiler freier Gesellschaften. Protest stellt sich Missständen entgegen und gibt uns allen eine Stimme», sagt Lisa Salza, Verantwortliche für die Kampagne «Protect the Protest» von Amnesty Schweiz.

«Die Einführung von völkerrechtswidrigen Praktiken und Gesetzen gefährdet die Grundrechte, insbesondere unser Recht, uns für eine gerechtere Gesellschaft einzusetzen. Beschränkungen des Rechts auf Protest und somit den Rechten auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit schaden der politischen Teilhabe der Bevölkerung und somit letztendlich auch unserer direkten Demokratie» Lisa Salza, Verantwortliche für die Kampagne «Protect the Protest» von Amnesty Schweiz

Anstatt die wichtige Rolle von Protest anzuerkennen, macht die Junge SVP mit einer völkerrechtswidrigen Initiative Stimmung gegen Menschen, die sich für gesamtgesellschaftlich relevante Anliegen einsetzen. Die kantonale Volksinitiative «zur Durchsetzung von Recht und Ordnung» verletzt das in der Verfassung und im Völkerrecht verankerte Recht auf Versammlungsfreiheit in Bezug auf mehrere Aspekte.

Die von den Initiant*innen geforderte Bewilligungspflicht ist gemäss dem Uno-Menschenrechtsausschuss völkerrechtswidrig, denn sie untergräbt die Idee, dass friedliche Versammlungen ein Grundrecht sind. Nach internationalen Menschenrechtsstandards sollte die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäusserung und friedliche Versammlung nicht von einer Genehmigung der Behörden abhängig gemacht werden. Aus diesem Grund betrachtet Amnesty International jedes Verfahren, das eine Bewilligung für eine Kundgebung vorschreibt, als ungerechtfertigten Eingriff in das Recht auf friedliche Versammlung.

«Anstelle der Bewilligungspflicht können die Behörden eine Meldepflicht für bestimmte Formen von Versammlungen vorsehen. Mit einer Meldepflicht müssten Proteste lediglich angemeldet werden und die Behörden dürften diese nur verbieten, wenn ein zwingender Grund dafür vorliegt – also wenn zum Beispiel die Wahrung der nationalen Sicherheit anderweitig nicht gewährleistet werden kann», sagt Lisa Salza. Die Meldepflicht würde es den zuständigen Behörden nach wie vor erlauben, ihre Verpflichtungen zum Schutz des Protests zu erfüllen und den reibungslosen Ablauf der Veranstaltung zu gewährleisten.

Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verlangt Toleranz seitens des Staates gegenüber friedlichen nicht angekündigten Versammlungen. Diese Toleranz sollte sich auch auf jene friedlichen Versammlungen erstrecken, die ein gewisses Mass an Störung des normalen Lebens, einschliesslich des Verkehrs, verursachen.

Geforderte Kostenübernahme verstösst gegen internationale Standards

Die Initiative «zur Durchsetzung von Recht und Ordnung» fordert zudem, dass die Kosten für Sachbeschädigungen oder Polizeieinsätze von den Organisator*innen der Proteste übernommen werden sollten. Dies ist völkerrechtswidrig, da gemäss dem Uno-Menschenrechtsausschuss und dem EGMR Gewalttaten einzelner Teilnehmer*innen nicht ohne Weiteres den Organisator*innen angelastet werden dürfen. Auch die Leitlinien der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) legen fest, dass Organisator*innen unter keinen Umständen verpflichtet werden dürfen, für Schäden aufzukommen, die von anderen Versammlungsteilnehmer*innen verursacht wurden – es sei denn, sie haben dazu angestiftet oder sie anderweitig direkt verursacht. Die Haftung sollte sich auf das individuelle Verschulden stützen und muss durch Beweise belegt werden. «Es ist grundsätzlich die Aufgabe des Staates und nicht der Organisator*innen, an Demonstrationen für die Gewährleistung der Sicherheit zu sorgen. Die geforderte Kostenübernahme könnte es vielen friedlichen Bewegungen verunmöglichen, Demonstrationen durchzuführen», sagt Lisa Salza.

Die von der Initiative geforderten Einschränkungen sind aus Perspektive des Völkerrechts noch aus einem weiteren Grund problematisch: Es kann davon ausgegangen werden, dass die geforderten Massnahmen einen abschreckenden Effekt auf die Durchführung künftiger Demonstrationen und andere Arten von Protest haben. «Dieser sogenannte ‘Chilling Effect’ ist von den Initiant*innen durchaus beabsichtigt, kann aber gemäss den OSZE-Leitlinien eine indirekte Verletzung des Recht auf friedliche Versammlung darstellen, wenn die geforderten Massnahmen zu unnötigen und unverhältnismässig harten Sanktionen führen», sagt Lisa Salza.

Amnesty International fordert die Zürcher Behörden auf, sich an die menschenrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz zu halten. Dies auch vor dem Hintergrund, dass in anderen Städten der Schweiz bereits ähnliche Initiativen geplant sind. In Basel-Stadt läuft derzeit die Unterschriftensammlung für die Basler Variante der «Anti-Chaoten-Initiative».

«Die Einführung von völkerrechtswidrigen Praktiken und Gesetzen gefährdet die Grundrechte, insbesondere unser Recht, uns für eine gerechtere Gesellschaft einzusetzen. Beschränkungen des Rechts auf Protest und somit den Rechten auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit schaden der politischen Teilhabe der Bevölkerung und somit letztendlich auch unserer direkten Demokratie», sagt Lisa Salza.

Zum Hintergrund

Weltweit reagieren Staaten mit einer immer breiteren Palette von Massnahmen zur Unterdrückung von organisiertem Protest. Demonstrant*innen sehen sich mit Gesetzen konfrontiert, die das Recht auf Protest einschränken, sie sind dem Einsatz von «weniger tödlichen» Waffen  ausgesetzt und sind betroffen von gezielter Überwachung ihrer Aktivitäten, die oft mit Strafverfolgung und Verhaftungen einhergeht. Amnesty International hat ihre weltweite Kampagne «Protect the Protest» gestartet, um der zunehmenden Tendenz vieler Staaten entgegenzuwirken, das Recht auf Protest zu untergraben. Die Kampagne von Amnesty Schweiz ist Teil dieser internationalen Kampagne.

Das Recht auf Protest ist durch das internationale Recht geschützt, auch wenn es nicht in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) enthalten ist. Es leitet sich hauptsächlich aus der friedlichen Versammlungsfreiheit und dem Recht auf freie Meinungsäusserung ab, die in mehreren Rahmendokumenten zu den Menschenrechten verankert sind: Der AEMR, dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, der Europäischen Menschenrechtskonvention, sowie der Uno-Erklärung zu Menschenrechtsverteidiger*innen. In der Schweiz sind diese Freiheiten durch die Artikel 16 und 22 der Bundesverfassung garantiert.