Nach der gewaltsamen Auflösung einer offenbar friedlichen Demonstration im Genfer Stadtteil Pâquis am 9. Februar haben sich Amnesty International und die Genfer Koordination für das Demonstrationsrecht (CGDM) an den Generalstaatsanwalt gewandt und gefordert, dass Ermittlungen gegen Mitglieder des Polizeikorps eingeleitet werden, die eines strafrechtlich relevanten Verhaltens verdächtigt werden. Beide Organisationen begrüssen zudem die Einleitung einer internen Administrativuntersuchung.
Presseberichten zufolge verlief die Versammlung am 9. Februar friedlich. Die Polizei griff jedoch ein und löste sie unter Anwendung von Gewalt auf. Mehrere Demonstrant*innen gaben an, dass sie mit Schlagstöcken geschlagen wurden. Einer von ihnen sagte gegenüber Amnesty International, dass die Teilnehmer*innen sich zurückzogen, als die Polizei versuchte, die Gruppe mit Schlagstöcken aufzulösen und sie noch lange Zeit verfolgte.
Zwei weitere Personen, die sich am Ort des Geschehens befanden, wurden ebenfalls geschlagen: Der Genfer Kantonsrat Jean Burgermeister, der versucht hatte, mit den Polizist*innen zu sprechen, berichtete den Medien, er mit einem Schlagstock am Kopf verletzt wurde. Der Fotograf Steeve Iuncker, der für die Tageszeitung Tribune de Genève über die Demonstration berichtete, soll Schläge auf den Rücken erhalten haben, und sein Presseausweis wurde konfisziert.
Verhältnismässigkeit ist unerlässlich
Die Rechte auf freie Meinungsäusserung und Versammlungsfreiheit sind durch das Völkerrecht und die Genfer Kantonsverfassung und die Bundesverfassung geschützt. Staaten sind verpflichtet, die Ausübung des Rechts auf friedliche Versammlung zu ermöglichen. Gemäss internationalen Menschenrechtsstandards muss jede Anwendung von Gewalt bei der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung den Grundsätzen der Rechtmässigkeit, Notwendigkeit und Verhältnismässigkeit entsprechen. Die Verantwortlichen von Menschenrechtsverletzungen müssen zur Rechenschaft gezogen werden.
Eine Demonstration nicht bei den Behörden anzumelden, macht sie nicht rechtswidrig. Das Fehlen einer Genehmigung darf nicht als Grund für die Auflösung der Versammlung oder für Festnahmen herangezogen werden, schon gar nicht mit unverhältnismässiger Gewalt. Grundsätzlich dürfen Schlagstöcke nur als Reaktion auf Gewalt oder drohende Gewalt eingesetzt werden, wenn keine anderen, weniger gefährlichen Mittel zur Verfügung stehen. Nach internationalen Standards dürfen sie niemals zur Auflösung friedlicher Versammlungen oder gegen Personen, die überwältigt wurden, eingesetzt werden.
Schlagstockeinsätze, bei denen die Polizei Demonstrant*innen hinterherläuft während sich die Demonstration auflöst oder versucht, alle zu schlagen, die sich in Reichweite befinden, sind eine unnötige und illegale Gewaltanwendung. Darüber hinaus darf die Polizei nicht auf «hohe Risikopartien» des Körpers zielen, bei der die inhärente Gefahr einer schweren Verletzung besteht. Das betrifft insbesondere Kopf, Hals, Wirbelsäule, Kehle und Leistengegend. Ausgenommen sind Situationen, in denen ein unmittelbare Gefahr einer schweren Verletzung oder des Todes besteht, und die Polizei nicht auf andere Weise reagieren kann.
Schutz von Medienschaffenden muss gewährleistet werden
Für Amnesty International ist die Gewaltanwendung gegen den Fotografen der Tribune de Genève besorgniserregend. Wie der Uno-Menschenrechtsausschuss betont, spielen Medienschaffende, die den Verlauf von Kundgebungen beobachten und darüber berichten, eine besonders wichtige Rolle. In der Allgemeinen Bemerkung 37 des Ausschusses heisst es: «Die Ausübung dieser Funktionen darf ihnen weder untersagt noch darf sie eingeschränkt werden, auch nicht bei der Überwachung der Handlungen der Polizeikräfte. Sie dürfen nicht Gefahr laufen, Vergeltungsmassnahmen oder anderen Formen der Belästigung ausgesetzt zu werden, und ihre Ausrüstung darf nicht beschlagnahmt oder beschädigt werden. Selbst wenn eine Versammlung für illegal erklärt und aufgelöst wird, wird das Recht, sie zu beobachten, damit nicht aufgehoben.»
Ergänzende unabhängige Beschwerdeinstanz gefordert
Für Amnesty International ist die Einleitung einer Administrativuntersuchung ein Schritt in die richtige Richtung. Die Menschenrechtsorganisation fordert jedoch seit Jahren die Einrichtung einer unabhängigen und effektiven Beschwerdeinstanz mit einem klaren Mandat, angemessenen Ressourcen und vollen Ermittlungsbefugnissen. Ein solcher Mechanismus, der die bestehenden Gerichtsverfahren ergänzen würde, würde sicherstellen, dass Fehlverhalten von Polizeibeamt*innen unparteiisch untersucht wird und dass Beschwerdeführende und Zeug*innen ohne Angst vor Repressalien Klage einreichen können. Darüber hinaus würde eine unabhängige Beschwerdeinstanz die Glaubwürdigkeit der Polizei und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Institution stärken, Menschenrechtsverletzungen und Straftaten der Polizei verhindern und die Straflosigkeit bekämpfen.