Übergabe einer Ukraine-Petition, die ein Ende des Krieges in der Ukraine fordert,  vor der russischen Botschaft in Bern, März 2022. Wegen dieser Aktion wurde eine Amnesty-Mitarbeitende gebüsst. © Amnesty International
Übergabe einer Ukraine-Petition, die ein Ende des Krieges in der Ukraine fordert, vor der russischen Botschaft in Bern, März 2022. Wegen dieser Aktion wurde eine Amnesty-Mitarbeitende gebüsst. © Amnesty International

Schweiz / Bern Völkerrechtswidrige Einschränkung von Protesten vor Botschaften

26. Mai 2023
In Bern finden derzeit mehrere Gerichtsverfahren statt, die zustande kamen, weil die Behörden Aktivist*innen, die friedlich vor Botschaften demonstrierten, Bussen auferlegten. Die Schweizer Sektion von Amnesty International nimmt dazu Stellung.

Aufgrund von Strafbefehlen, die wegen der «Durchführung einer bewilligungspflichtigen Kundgebung ohne entsprechende Bewilligung» erfolgt sind, bringt Amnesty International die Besorgnis zum Ausdruck, dass die Rechte auf Meinungsäusserungs- und Versammlungsfreiheit durch die Praxis in Bern, friedliche Versammlungen in Sicht- und Hörweite von Botschaftsgebäuden zu verhindern, unrechtmässig eingeschränkt werden. Unsere Organisation ist ferner besorgt darüber, dass es den Verfahren im Zusammenhang mit der Durchführung solcher Proteste an Klarheit und Transparenz mangelt und dass die Bewilligungserfordernis die effektive Ausübung der Meinungsäusserungs- und Versammlungsfreiheit unverhältnismässig einschränkt.

Rechte auf freie Meinungsäusserung und auf friedliche Versammlung nach Völkerrecht

Gemäss den internationalen Menschenrechtsnormen hat jeder Mensch das Recht, die eigene Meinung ungehindert zu äussern und das Recht auf freie Meinungsäusserung friedlich auszuüben.[1] Das Recht, sich friedlich zu versammeln, schützt das gewaltfreie Zusammenkommen von Personen für einen gemeinsamen Zweck.

Der Uno-Menschenrechtsausschuss hat die untrennbare Verbindung zwischen dem Recht auf friedliche Versammlung und dem Recht auf freie Meinungsäusserung betont.[2] Amnesty spricht in diesem Zusammenhang vom Recht auf Protest. Dieses ist als solches zwar nicht in der Schweizerischen Bundesverfassung als Grundrecht aufgeführt, Demonstrationen und Kundgebungen auf öffentlichem Grund geniessen jedoch den verfassungsrechtlichen Schutz sowohl der Meinungs- wie auch der Versammlungsfreiheit1. Diese Rechte sind auch in mehreren international anerkannten Menschenrechtstexten verankert: Dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Uno-Pakt II), der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte AEMR und der Uno-Erklärung über Menschenrechtsverteidiger*innen. 

Staaten können die Ausübung des Rechts auf Protest in gewisser Weise einschränken. Jegliche Einschränkungen müssen jedoch in einem klaren und öffentlich zugänglichen Gesetz verankert sein und im Verhältnis zur Erreichung eines legitimen Ziels stehen. Auch wenn ein solches Ziel der Schutz der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung sein kann, muss jede einschränkende Massnahme die Grundsätze der Gesetzmässigkeit und der Verhältnismässigkeit einhalten.

Das Prinzip, in Sicht- und Hörweite protestierten zu dürfen

Der Durchführungsort ist ein massgebliches Kriterium dafür, ob ein Protest seine Wirkung entfaltet. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hält fest, dass «der Zweck einer Versammlung häufig an einen bestimmten Ort und/oder eine bestimmte Zeit gebunden, damit sie in Sicht- und Hörweite ihres Zielpublikums und zu einem Zeitpunkt stattfinden kann, an dem die Botschaft die stärkste Wirkung entfalten kann». [3] In Anbetracht der Tatsache, dass Botschaftsgebäude die Räumlichkeiten sind, in denen die Regierung eines Staates im Hoheitsgebiet eines anderen Staates präsent ist, und in Anerkennung der entscheidenden Rolle, die Botschaftsvertreter*innen bei der Lösung politischer Probleme und der Vertiefung diplomatischer Beziehungen spielen, ist es zwingend erforderlich, dass Einzelpersonen ihr Recht auf Protest in der Nähe von Botschaftsgebäuden ausüben können. Folglich dürfen Botschaften nicht grundsätzlich vom Recht auf Protest ausgeschlossen sein.

Die Bewilligungspflicht ist völkerrechtswidrig

Nach internationalen Menschenrechtsstandards sollte die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäusserung und friedliche Versammlung nicht von einer Genehmigung der Behörden abhängig gemacht werden. Die Bewilligungspflicht ist völkerrechtswidrig, denn sie «untergräbt die Idee, dass friedliche Versammlungen ein Grundrecht sind».[4] Aus diesem Grund betrachtet Amnesty International jedes Verfahren, das eine Bewilligung vor einer Versammlung vorschreibt, als ungerechtfertigten Eingriff in das Recht auf friedliche Versammlung.

Anstelle der Bewilligungspflicht können die Behörden eine Meldepflicht für bestimmte Formen von Versammlungen vorsehen. Mit einer Meldepflicht müssten Proteste lediglich angemeldet werden und die Behörden dürften diese nur verbieten, wenn ein zwingender Grund – wie im Völkerrecht vorgesehen – dafür vorliegt. Die Meldepflicht würde es den zuständigen Behörden nach wie vor erlauben, ihre Verpflichtungen zum Schutz des Protests zu erfüllen und den reibungslosen Ablauf der Veranstaltung zu gewährleisten. Doch auch die Meldepflicht darf kein Selbstzweck sein. In Fällen, in denen nur eine sehr geringe Anzahl von Demonstrant*innen mit friedlichen Absichten teilnimmt und die Öffentlichkeit nicht zur Teilnahme aufgerufen wird, bedürfte es keiner Meldung. Gemäss Rechtsprechung des EGMR muss die Polizei unter diesen Umständen ein gewisses Mass an Toleranz walten lassen, wenn das Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit nicht völlig ausgehöhlt werden soll.

Bei der Prüfung, ob das Recht auf Protest in der Nähe von Botschaften in irgendeiner Weise eingeschränkt werden soll, müssen die besonderen tatsächlichen Umstände von Fall zu Fall berücksichtigt werden. Es kann nicht allgemein davon ausgegangen werden, dass Sicherheitsbedenken bestehen. Nach Informationen, die Amnesty International vorliegen, scheint die Berner Polizei keine Bewilligungen für Proteste vor Botschaften zu erteilen, weil Sicherheitsüberlegungen immer Vorrang vor anderen konkurrierenden Interessen haben. Sollte dies tatsächlich die offizielle Praxis sein, kommt dies einem Allgemeinverbot gleich und verstösst grundlegend gegen die internationalen Menschenrechtsverpflichtungen der Schweiz. 

Sanktionen und ihre abschreckende Wirkung («chilling effect»)

Mehrere Uno-Sondergesandte haben zu zwei Fällen in Bern Stellung genommen und halten unter anderem fest: «Das Versäumnis, die Behörden vorab über eine bestehende Versammlung zu informieren, macht die Teilnahme an der betreffenden Versammlung nicht rechtswidrig und darf nicht an sich als Grund für die Auflösung der Versammlung oder für die Verhängung von ungerechtfertigten Sanktionen (…) angeführt werden.»[5]

Auch der EGMR hat festgestellt, dass «eine rechtswidrige Situation, wie die Durchführung einer Demonstration ohne vorherige Bewilligung, nicht unbedingt einen Eingriff in das Recht einer Person auf Versammlungsfreiheit rechtfertigt».[6]

Gemäss OSZE-Leitlinien zur Versammlungsfreiheit könnten «unnötige oder unverhältnismässig harte Sanktionen für das Verhalten bei Versammlungen die Durchführung solcher Veranstaltungen behindern und eine abschreckende Wirkung haben und die Demonstrant*innen von der Teilnahme abhalten. Solche Sanktionen können eine indirekte Verletzung des Rechts auf friedliche Versammlung darstellen.»[7] 

Der Schluss liegt nahe, dass hohe Hürden und intransparente Verfahren sowie unklare Auflagen wie sie in Bern in Bezug auf Demonstrationen vor Botschaften herrschen, auf potenziell Protestierende abschreckend wirken und einen sogenannten «chilling effect» auf die Ausübung des Rechts auf Protest haben.


[1] Artikel 19 (1 und 2) UN- Pakt II.
[2] Menschenrechtsausschuss, Allgemeine Bemerkung 34, Artikel 19: Meinungsfreiheit und Recht auf freie Meinungsäusserung, UN Dok. CCPR/C/GC/34, § 4
[3] EGMR, Lashmankin/Russland (2017), § 405.
[4] Menschenrechtsausschuss, Allgemeine Bemerkung 37, Artikel 21: Recht auf friedliche Versammlung, UN Dok. CCPR/C/GC/34, § 4.
[5] Brief Rapporteur spécial sur le droit de réunion pacifique et la liberté d'association; de la Rapporteuse spéciale sur la promotion et la protection du droit à la liberté d'opinion et d'expression et de la Rapporteuse spéciale sur la situation des défenseurs des droits de l'homme spcommreports.ohchr.org
[6] EGMR, Obote/Russland (2019), § 41.
[7] OSZE-Leitlinien zur friedlichen Versammlungsfreiheit, 2020 Abs. 36.