Der Entscheid, bis zu den Weihnachtsfeiertagen keine grösseren Demonstrationen in der Berner Innenstadt zu bewilligen, wurde am 8. November bekannt gegeben, nachdem der Berner Sicherheitsdirektor Philippe Müller in den Medien zum Verzicht auf propalästinensische Demonstrationen aufgerufen hatte. Die Stadt Bern begründete diesen Entscheid auch mit «sicherheitsrelevanten Überlegungen», da in der Adventszeit Weihnachtsmärkte und andere Veranstaltungen eine grosse Anzahl von Besucher*innen anziehen würden. Die Mitteilung kam nur wenige Wochen, nachdem bereits ein allgemeines Demonstrationsverbot verhängt worden war.
«Grosse Demonstrationen für mehrere Wochen nicht mehr zuzulassen, ist ein schwerer Eingriff in das Recht auf Demonstrationsfreiheit. Jede Einschränkung, die von Menschenrechtsverpflichtungen abweicht, muss gerechtfertigt sein. Sie muss auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, notwendig und verhältnismässig sein und ein legitimes Ziel verfolgen» Alicia Giraudel, Juristin bei Amnesty International Schweiz
«Amnesty International ist besorgt über die Leichtfertigkeit, mit der die Berner Behörden das Recht auf Protest einschränken. Die Behörden verfügen über zahlreiche Instrumente, um auf reale Bedrohungen zu reagieren. Die Behinderung friedlicher Demonstrationen – auch im Zusammenhang mit dem Konflikt im Nahen Osten – mit dem Argument, die Agenda für die Aufrechterhaltung der Sicherheit sei voll, verstösst gegen Menschenrechte», sagte Alicia Giraudel, Juristin bei Amnesty International Schweiz.
«Grosse Demonstrationen für mehrere Wochen nicht mehr zuzulassen, ist ein schwerer Eingriff in das Recht auf Demonstrationsfreiheit. Jede Einschränkung, die von Menschenrechtsverpflichtungen abweicht, muss gerechtfertigt sein. Sie muss auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, notwendig und verhältnismässig sein und ein legitimes Ziel verfolgen», erklärte die Juristin.
«Die Behörden sollten friedliche Demonstrationen grundsätzlich zulassen und dann eingreifen, wenn es während der Veranstaltung tatsächlich zu Straftaten kommt; anstatt präventiv Einschränkungen zu verhängen, in der Hoffnung, jedes Risiko auszuschliessen. Es muss eine Vermutung zugunsten friedlicher Versammlungen geben, und die Behörden müssen sich an die Verpflichtung halten, nicht ungerechtfertigt in die Demonstrationsfreiheit einzugreifen», sagte Alicia Giraudel.
«Die Massnahme der Stadt Bern, die als generelles Demonstrationsverbot wahrgenommen werden kann, wird eine erhebliche abschreckende Wirkung auf die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäusserung haben. Dieser sogenannte ‘chilling effect’ kann eine Verletzung der Rechte auf freie Meinungsäusserung und friedliche Versammlung darstellen, da er von der Ausübung dieser Rechte abhält und sie behindert.»
Politische Meinungen geniessen als Ausdrucksform einen besonderen Schutz. Daher sollten verstärkte Anstrengungen unternommen werden, um Demonstrationen zu ermöglichen, die eine politische Botschaft zum Ausdruck bringen. Gründe wie die Behinderung des Verkehrs und die Störung des täglichen Lebens der Bürger*innen erfüllen nicht die Kriterien, die in den völkerrechtlichen Standards für die Rechtfertigung von Einschränkungen der Versammlungsfreiheit festgelegt sind.
Eine Einschränkung, die jegliche Möglichkeit von Demonstrationen im Stadtzentrum ausschliesst, ist angesichts des Grundsatzes, dass Versammlungen in Sicht- und Hörweite des Zielpublikums stattfinden können müssen, problematisch. Darüber hinaus liegt der Kern des Rechts auf Versammlungsfreiheit darin, dass die Organisator*innen einer Demonstration den Ort wählen können, an dem sie ihre Botschaft am besten vermitteln können. Demonstrationen nur abseits des Stadtzentrums zuzulassen, ist daher unzulässig.
«Amnesty International fordert die Berner Behörden auf, den Menschen zu erlauben, ihre Sorgen friedlich zu äussern – gerade angesichts der Situation im Nahen Osten; denn das ist Ausdruck einer freien und gerechten Gesellschaft», sagte Alicia Giraudel.