«Der Bundesrat bekennt sich zwar formell zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Aber die Weigerung, das EGMR-Urteil zu den KlimaSeniorinnen ernst zu nehmen und die notwenigen Massnahmen zum Klimaschutz einzuleiten, ist eine klare Missachtung des Gerichtshofs und schwächt die durch ihn garantierten Menschenrechte. Die Klimakrise ist eine der grössten Bedrohungen der Menschenrechte. Der Bundesrat muss deutlicher für Klimaschutz und Menschenrechte einstehen», sagt Alexandra Karle, Geschäftsleiterin von Amnesty Schweiz.
«Die Weigerung, das EGMR-Urteil ernst zu nehmen und die notwenigen Massnahmen zum Klimaschutz einzuleiten, ist eine klare Missachtung des Gerichtshofs und schwächt die durch ihn garantierten Menschenrechte.» Alexandra Karle, Geschäftsleiterin von Amnesty Schweiz
Der Bundesrat behauptet, das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall der KlimaSeniorinnen sei bereits umgesetzt. Er ignoriert dabei die Anforderungen an einen menschenrechtskonformen Klimaschutz, die der EGMR in seinem Urteil definiert hat. Zudem stellt der Bundesrat den Entscheid des Menschenrechtsgerichts zur Beschwerdebefugnis von Vereinen in Frage. «Der EGMR hat in seinem Urteil sorgfältig dargelegt und begründet, warum die KlimaSeniorinnen klageberechtigt sind und warum die Schweiz diesbezüglich über die Bücher muss. Die trotzige Haltung des Bundesrates zum Verbandsbeschwerderecht ist bedauerlich und kurzsichtig», so Alexandra Karle.
Amnesty teilt die Kritik des Vereins KlimaSeniorinnen und von Greenpeace Schweiz, dass der Bundesrat keine nachvollziehbaren Begründungen für seine Position vorgelegt hat. Statt mit einer seriösen Auseinandersetzung mit den im Präzedenzurteil aufgeführten Anforderungen an eine menschenrechtskonforme Klimapolitik reagiert der Bundesrat mit Behauptungen, die teilweise im Gerichtsverfahren selbst schon widerlegt oder zurückgewiesen worden sind. Die Schliessung der Regulierungslücke beim CO2-Gesetz sowie das neue Stromgesetz reichen nicht aus, um die Menschenrechtsverletzung zu beheben.
Das gravierendste Versäumnis: Der Bundesrat legt nicht dar, inwiefern die noch geplanten Emissionen der Schweiz tatsächlich damit vereinbar sind, dass die Erderwärmung global nicht über 1,5°C steigt. Der EGMR hat dieses von der Schweiz anerkannte und von der Bevölkerung unterstützte Erwärmungs-Limit von 1,5°C als menschenrechtlich relevante Grösse festgelegt.
Damit die 1,5°C-Grenze nicht überschritten wird, ist die Einhaltung des noch verbleibenden globalen CO2-Budgets massgebend. Dieses muss unter allen Ländern aufgeteilt werden. Nationale Budgets ohne Bezugnahme zu einem globalen Budget besagen einzig, wie viel CO2 sich ein Staat selbst zugesteht – ohne Rücksicht zu nehmen auf das noch vorhandene globale Budget und die Ansprüche anderer Staaten. Ein solches Vorgehen kann nicht sicherstellen, dass die globale Erwärmung 1.5°C nicht übersteigt, und ist damit menschenrechtswidrig.
Die Schweiz hat bislang keine konkreten Zahlen zu einem nationalen CO2-Budget vorgelegt. Bereits heute ist klar: Mit dem bis 2030 geltenden CO2-Gesetz und dem in der Abstimmung angenommenen Klimaschutzgesetz beansprucht die Schweiz einen zu grossen Anteil des globalen Budgets – das haben die KlimaSeniorinnen vor Gericht nachgewiesen. Würden alle so handeln wie die Schweiz, würde sich die Erde um bis zu 3°C erwärmen.
«Mit seiner Position sendet der Bundesrat ein gefährliches Signal an die Staaten des Europarats.» Alexandra Karle
«Mit seiner Position sendet der Bundesrat ein gefährliches Signal an die Staaten des Europarats, dass die Urteile des Gerichtshofs unverbindlich sind und dass Klimaschutzmassnahmen à la carte getroffen werden können. Diese Haltung schwächt die Rechtsstaatlichkeit und den Schutz der Menschenrechte in Europa», so Alexandra Karle. «Staaten wie die Schweiz müssen konkrete und wirksame Massnahmen ergreifen gegen die Bedrohung der Menschenrechte durch den Klimawandel und die am stärksten gefährdeten Gruppen schützen, darunter Kinder und ältere Menschen.»
Amnesty International fordert die Schweiz auf, ihren internationalen Menschenrechtsverpflichtungen und den globalen Klimaverpflichtungen nachzukommen. Die Regierung muss bis zum 9. Oktober dem Ministerkomitee des Europarats einen Aktionsplan vorlegen, der alle getroffenen oder geplanten Massnahmen zur Umsetzung des Klima-Urteils enthält. Sie wird insbesondere aufzuzeigen müssen, wie die Schweiz mit ihrer Klimapolitik die Einhaltung des 1.5°C-Limits möglich macht. Die Umsetzung des Urteils wird vom Ministerkomitee des Europarats im Rahmen eines sogenannten verschärften Verfahrens (enhanced procedure) überwacht.