Der EGMR hat heute die Schweiz verurteilt, weil sie es versäumt hat, den Vorwurf rassistischer Diskriminierung bei einer Polizeikontrolle in Zürich zu prüfen. Der Gerichtshof hat zudem eine materielle Verletzung des Diskriminierungsverbots in Verbindung mit dem Recht auf Achtung des Privatlebens und eine Verletzung des Rechts auf eine wirksame Beschwerde festgestellt.
«Die Schweizer Polizei kann sich nicht länger hinter der falschen Behauptung verstecken, dass es in ihren Reihen kein ethnisches Profiling gibt...» Alicia Giraudel, Juristin bei Amnesty International Schweiz
«Die Schweiz muss unverzüglich Massnahmen ergreifen, um das Urteil umzusetzen, u.a. indem sie Gesetze, Richtlinien und die Polizeipraxis an internationale Standards anpasst und ethnisches Profiling bekämpft», sagte Alicia Giraudel, Juristin bei Amnesty International Schweiz.
Der EGMR-Entscheid ist hier zu finden.
Ausführliches Statement zu den rechtlichen Auswirkungen des Urteils von Amnesty International
Die Drittparteienintervention von Amnesty International hier.
Mohamed Wa Baile wurde 2015 auf dem Weg zur Arbeit im Hauptbahnhof Zürich von der Polizei einer Personenkontrolle unterzogen. Er weigerte sich, seinen Ausweis vorzuweisen, da die Polizisten ihm keine Gründe für die Kontrolle nannten und er diese als rassistisch empfand. Er wurde daraufhin wegen Nichtbefolgen einer polizeilichen Anordnung gebüsst. 2018 bestätigte das Bundesgericht die Verurteilung von Mohamed Wa Baile durch das Zürcher Obergericht. Dagegen erhob er Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg.
Die Schweiz wäre verpflichtet gewesen, der Beschwerde von Mohamed Wa Baile wegen rassistischer Diskriminierung wirksam nachzugehen. Dies wurde jedoch versäumt. Die Behörden konnten zudem die Vermutung nicht widerlegen, dass die Anhaltung und Durchsuchung von Wa Baile am Hauptbahnhof Zürich diskriminierend war, hält der EGMR in seinem Urteil fest.
«Amnesty hat beobachtet, dass in vielen Ländern Europas und darüber hinaus über ethnisches Profiling der Polizei berichtet wurde. Das Urteil des EGMR ist ein wichtiger Weckruf an alle Staaten und Verantwortungsträger*innen um Schritte zu ergreifen, ihrer Verpflichtung zur Verhütung diskriminierende Polizeikontrollen nachzugehen und ethnisches Profiling zu bekämpfen», sagte Alicia Giraudel.
«Die Schweizer Polizei kann sich nicht länger hinter der falschen Behauptung verstecken, dass es in ihren Reihen kein ethnisches Profiling gibt. Die Behörden müssen ihre Praxis ändern und diskriminierende Polizeikontrollen ein für alle Mal beenden. Es ist an der Zeit, dass die Behörden das Problem des institutionellen Rassismus innerhalb der Polizei anerkennen und Daten erheben, die Aufschluss über das Ausmass des Phänomens geben, um den Kampf gegen das ethnische Profiling zu überdenken und wirksam zu führen.»
«Das Verbot diskriminierender Identitätskontrollen und der Grundsatz des begründeten Verdachts müssen gesetzlich verankert werden und es braucht klare Richtlinien, um einen zu grossen Ermessensspielraum bei Polizeikontrollen zu verhindern. Auch bei der Weiterbildung der Polizei muss das Problem des ethnischen Profiling in den Fokus rücken», forderte Alicia Giraudel.
«Betroffene müssen Zugang zu wirksamen Beschwerdemechanismen erhalten. Internationale Menschenrechtsorganisationen empfehlen der Schweiz seit Jahren, in allen Kantonen unabhängige Stellen einzurichten, die befugt sind, Beschwerden gegen Polizeikräfte zu untersuchen.»