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Schweiz – Parlamentsdebatte zur EMRK Gefährliches Signal an Europa

Medienmitteilung 23. September 2024, Bern – Medienkontakt
Im Nachgang zum Klima-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) wird in mehreren Vorstössen im Parlament die Einschränkung des Gerichtshofs und gar die Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verlangt. Die Schweiz sendet mit dieser Debatte ein gefährliches Signal an Staaten wie Russland, die Türkei oder Ungarn, die den gemeinsamen Menschenrechtsschutz bereits frontal angreifen. Amnesty International ruft das Parlament auf, für die EMRK einzustehen und diese fundamentale Errungenschaft zu verteidigen.

Noch vor einem Jahr bekräftigte die Schweiz gemeinsam mit den anderen Mitgliedstaaten des Europarats ihr «tiefes und beständiges Bekenntnis zur Europäischen Menschenrechtskonvention und zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) als oberste Garanten der Menschenrechte auf unserem Kontinent». Und sie bestätigte ihre «unbedingte Verpflichtung, den Urteilen des EGMR in allen Fällen Folge zu leisten» (Rejkiavik Erklärung).

«Wir erwarten, dass das Parlament für den europäischen Menschenrechtsschutz einsteht und die Misstrauensanträge gegen die EMRK und ihren Gerichtshof in der aktuellen Parlamentssession vom Tisch fegt» Alexandra Karle, Geschäftsleiterin von Amnesty Schweiz

Ein Jahr später sieht die Welt anders aus: Das Parlament fordert den Bundesrat in der Sommersession auf, das EGMR-Urteil zu den KlimaSeniorinnen «keine weitere Folge zu leisten». Der Bundesrat kritisiert «die weite Auslegung der EMRK durch den EGMR» und meint, er habe das EGMR-Urteil bereits ausreichend umgesetzt. Und Parlamentarier*innen verlangen in Vorstössen die Kündigung der EMRK, neue Einschränkungen des Gerichtshofs sowie mehr Spielraum für die Staaten bei der Umsetzung der Urteile.

«Die Schweiz hat ein fundamentales Interesse an einer internationalen Ordnung, die auf universell anerkannten Regeln basiert. Der Europarat wurde nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, um Menschenrechte, Demokratie und Rechtstaatlichkeit in Europa zu fördern. Wenn die Schweiz diese Institution schwächt, begibt sie sich auf einen gefährlichen Kurs», sagt Alexandra Karle, Geschäftsleiterin von Amnesty Schweiz.

Die Schweiz im Boot mit Russland, Ungarn, Türkei?

Mit ihrer Kritik am System der EMRK schliesst sich die Schweiz anderen Mitgliedstaaten des Europarats an, die die Institution direkt in Frage gestellt und bedroht haben, wie folgende Beispiele zeigen.

In Russland hat das Verfassungsgericht bereits 2015 entschieden, dass EGMR-Urteile nur noch umgesetzt werden müssen, wenn das Gericht geklärt hat, dass diese Urteile nicht gegen die russische Verfassung verstossen. Diese Entscheidung wurde vom Europarat nur mit milder Kritik bedacht, was andere Länder wie Polen, Ungarn und die Türkei ermutigte, dem russischen Beispiel zu folgen. In Russland wurden hunderte von EGMR-Urteile wegen schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen nur ungenügend umgesetzt. Der russische Angriff auf die Ukraine führte im März 2022 schliesslich zum Ausschluss aus dem Europarat.

In Polen wurden die Rechtstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Justiz ab 2015 durch die damalige Regierung ausgehöhlt. Der Entscheid des Verfassungsgerichts, dass Art. 6 der EMRK (das Recht auf ein faires Verfahren) mit der polnischen Verfassung unvereinbar sei, führte zu einer heftigen Reaktion des Europarats. In einem vernichtenden Bericht forderte die Generalsekretärin, dass die Mängel Polens bei der Umsetzung von EGMR-Urteilen behoben werden müssten. Seit dem Regierungswechsel 2023 macht sich die neue Regierung an den Abbau der rechtsstaatlichen Defizite.

Auch in Ungarn ist die Rechtsstaatlichkeit bedroht, Richter*innen und Staatsanwälte werden von der Regierung mit missbräuchlichen Disziplinarverfahren und Suspendierungen eingeschüchtert. Ungarn hat 76 % der EGMR-Urteile der letzten 10 Jahre nicht umgesetzt. Ein bekanntes Beispiel ist das EGMR-Urteil zum Richter Baka aus dem Jahr 2016 über die Meinungsfreiheit von Richter*innen: Der Europarat verurteilte 2023 Ungarn dafür, dass es das Urteil immer noch nicht umgesetzt hat.

Ein eklatantes Beispiel ist die anhaltende Weigerung der Türkei, den Unternehmer und Menschenrechtsaktivisten Osman Kavala freizulassen. Er wurde im Mai 2022 zu lebenslanger Haft verurteilt, obwohl der EGMR bereits 2019 seine Freilassung forderte. Die türkische Justiz weigert sich weiterhin, die EGMR-Urteile zu Osman Kavala umsetzen, obwohl der Europarat im Jahr 2022 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen das Land eingeleitet hat.

Ein Beispiel für die Untergrabung der EMRK ist auch Grossbritannien, wo frühere Regierungen immer wieder mit dem Austritt aus der Menschenrechtskonvention drohten und sich weigerten, die EGRM-Urteile als verbindlich anzuerkennen.

Ein starkes Völkerrecht ist im Interesse der Schweiz

Die Kritik der Staaten, die sich gegen die Autorität des Strassburger Gerichtshof und die Verbindlichkeit seiner Urteile richtet, hat gravierende Auswirkungen. Die Nichtbefolgung von EGMR-Urteilen gefährdet das gesamte System, das auf der Verbindlichkeit der Urteile beruht.

Wenn die Schweiz droht, ein missliebiges EGMR-Urteil nicht umzusetzen, oder sich gar aus der EMRK zurückzuziehen, sendet sie zudem ein gefährliches Signal an Unrechtsstaaten. Die Länder mit repressiven Tendenzen und mangelhafter Gewaltentrennung werden gestärkt, was zu einer Erosion rechtsstaatlicher Leitplanken in ganz Europa führen kann. Eine «à-la-carte»-Umsetzung von EGMR-Urteilen, oder gar eine Kündigungswelle der EMRK, würde nicht nur die gemeinsame Wertebasis gefährden und den Menschenrechtsschutz schwächen, sondern auch zu grösserer Unsicherheit und Instabilität in Europa führen.

«Wir erwarten, dass das Parlament für den europäischen Menschenrechtsschutz einsteht und die Misstrauensanträge gegen die EMRK und ihren Gerichtshof in der aktuellen Parlamentssession vom Tisch fegt», fordert Alexandra Karle.