Im Zentrum der Revision des Sexualstrafrechts steht die Neufassung der Artikel 189 und 190 des Strafgesetzbuches. Sie sollen zu einem besseren Schutz der sexuellen Selbstbestimmung führen. Eine Vergewaltigung oder ein sexueller Übergriff und sexuelle Nötigung liegen neu bereits dann vor, wenn das Opfer der Tatperson durch Worte oder Gesten zeigt, dass es mit der sexuellen Handlung nicht einverstanden ist, und diese sich vorsätzlich über den Willen des Opfers hinwegsetzt. Die Anwendung von Gewalt oder Drohung ist nicht mehr Voraussetzung. Damit wird das sogenannte «Nein-heisst-Nein»-Modell (Ablehnungslösung) umgesetzt.
Wichtig ist auch, dass eine Person, die einen Schockzustand des Opfers ausnutzt, der es daran hindert, eine Ablehnung zu zeigen, ebenfalls wegen Vergewaltigung oder sexuellem Übergriff strafrechtlich verfolgt werden kann. Nicht nur der nicht-einvernehmliche Beischlaf, sondern alle sexuellen Handlungen gegen den Willen einer betroffenen Person, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind, werden als Vergewaltigung anerkannt. Die Vergewaltigungsdefinition ist zudem neu geschlechtsneutral formuliert. Früher war nur «eine Person weiblichen Geschlechts» als mögliches Opfer in Art. 190 erwähnt.
Dunkelziffer hoch, mehr Anzeigen erwartet
Mit der Einführung des neuen Sexualstrafrechts wird erwartet, dass die Anzahl der Anzeigen bei der Polizei zunehmen wird. Das lässt sich aus den Erfahrungen in Deutschland schliessen. Derzeit wird in der Schweiz nur ein geringer Prozentsatz der tatsächlich begangenen Straftaten angezeigt, die Dunkelziffer ist entsprechend hoch. Eine 2019 von gfs.bern im Auftrag von Amnesty Schweiz durchgeführte repräsentative Umfrage ergab, dass 22 Prozent der über 16-jährigen Frauen in der Schweiz im Laufe ihres Lebens sexuelle Handlungen gegen ihren Willen erlebt haben. Nur 8 Prozent dieser Frauen erstatteten Anzeige bei der Polizei.
Mehr zur Kampagne gegen sexualisierte Gewalt und für ein neues Sexualstrafrecht
«Damit mehr Taten angezeigt und die Tatpersonen auch wirklich zur Rechenschaft gezogen werden, muss die Umsetzung des neuen Sexualstrafrechts von weiteren Massnahmen begleitet sein», fordert Cyrielle Huguenot, Verantwortliche für Frauenrechte bei Amnesty Schweiz.
«Wir rufen die Kantone dazu auf, die Auswirkungen des neuen Sexualstrafrechts genau zu beobachten und zu evaluieren. Neben dem Zugang zur Justiz muss auch die Belastung der neuen Verfahren für Betroffene analysiert werden. Für Opfer sexualisierter Gewalt muss eine angemessene Betreuung gewährleistet und eine Retraumatisierung während des gesamten Strafverfahrens verhindert werden. Dies erfordert Aus- und Fortbildungsmassnahmen für Polizei und Strafverfolgungsbehörden. Diese sollen das Wissen über sexualisierte Gewalt verbessern und Vorurteilen, Schuldzuweisungen an die Betroffenen und Vergewaltigungsmythen entgegenwirken», sagt Cyrielle Huguenot.
Die vom Parlament beschlossenen Massnahmen sollten in den Kantonen rasch umgesetzt werden – dazu gehört die Einrichtung von Krisenzentren für Opfer und die Umsetzung von Lernprogrammen für Tatpersonen. Die Behörden müssen zudem sicherstellen, dass von sexualisierter Gewalt Betroffene bei allen sie betreffenden Massnahmen angemessen konsultiert und einbezogen werden.
Prävention und Sensibilisierung
«Die gesamte Gesellschaft muss besser über sexualisierte Gewalt informiert und sensibilisiert werden. Neben breit angelegten Präventionskampagnen braucht es eine umfassende, altersgerechte Sexualaufklärung, die Kinder und Jugendliche über Einwilligung, sexuelle Selbstbestimmung und das Recht auf körperliche Integrität informiert», fordert Cyrielle Huguenot.
«Das Zustimmungsprinzip muss ins Gesetz und in die Köpfe der Menschen. Das betonen wir seit Beginn unserer Kampagne. Damit die Bedeutung der Zustimmung beim Sex von allen anerkannt und im Alltag praktiziert wird, muss die Prävention weiterhin auf die Botschaft ‘Nur Ja heisst Ja’ ausgerichtet sein. Es muss selbstverständlich sein, dass Sex die Zustimmung des Gegenübers braucht».