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Recht auf Protest Uno weist auf Versäumnisse der Schweiz hin

Medienmitteilung 2. April 2024, Bern – Medienkontakt
Uno-Sonderberichterstatter*innen sind besorgt über den mangelnden Schutz für Menschenrechts- und Umweltverteidiger*innen während friedlicher Versammlungen in der Schweiz.

In einem an die Schweiz adressierten Brief äussern fünf Uno-Sonderberichterstatter*innen Besorgnis über die strafrechtliche Verfolgung von Demonstrant*innen im Zusammenhang mit friedlichen Protesten auf der Quaibrücke und in der Uraniastrasse in Zürich in den Jahren 2020 und 2021. Laut den Uno-Expert*innen könnten diese Verfahren «eine unangemessene und ungerechtfertigte Einschränkung ihrer Rechte auf freie Meinungsäusserung und friedliche Versammlung darstellen». Darüber hinaus sind sie besorgt, dass die Schweizer Behörden ihrer Pflicht zum Schutz von Menschenrechts- und Umweltverteidiger*innen bei friedlichen Versammlungen nicht nachkommen.

In ihrem Schreiben stellen die Uno-Sonderberichterstatter*innen fest, dass die Aktionen der Menschenrechts- und Umweltverteidiger*innen, die zu ihrer strafrechtlichen Verfolgung geführt haben, zivilen Ungehorsam darstellen und im Einklang mit den Menschenrechten stehen. Gemäss dem Uno-Sonderberichterstatter für Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sind gewaltfreie Aktionen zivilen Ungehorsams, ungeachtet der Verstösse gegen nationale Gesetze, durch die Rechte auf Gewissensfreiheit, freie Meinungsäusserung und friedliche Versammlung zu schützen.

Die unabhängigen Uno-Expert*innen fordern die Schweiz auf, friedlichen zivilen Ungehorsam zu schützen, damit die Zivilgesellschaft im Kampf gegen humanitäre Notlagen, Gesundheits- und Klimakrisen weiterhin ihren wichtigen Beitrag leisten kann. Gemäss den Uno-Rahmenprinzipien für Menschenrechte und die Umwelt müssen die Staaten «ein sicheres und förderliches Umfeld schaffen, in dem Einzelpersonen, Gruppen und Organe der Gesellschaft, die sich mit Menschenrechts- oder Umweltfragen befassen, sich frei von Drohungen, Schikanen, Einschüchterungen und Gewalt engagieren können.»

Die Uno-Sonderberichterstatter*innen äussern ausserdem ihre Besorgnis über die Vorwürfe betreffend die Festhaltung einiger Demonstrant*innen der Quaibrücke und der Uraniastrasse über einen längeren Zeitraum ohne Vorführung vor einen Staatsanwalt. Sie weisen darauf hin, dass eine solche Inhaftierung einen Verstoss gegen Landes- und Völkerrecht darstellen könnte. Die Expert*innen zeigen sich zudem besorgt über den offenbar eingeschränkten Zugang zu einer Rechtsvertretung, die mutmassliche Verletzung des Rechts der Verhafteten auf einen Anwalt ihrer Wahl und des Rechts, mit einem Anwalt zu sprechen.

«Amnesty Schweiz begrüsst die Initiative der Uno-Sonderberichterstatter*innen und schliesst sich ihrer Besorgnis über die Einschränkungen der Rechte auf freie Meinungsäusserung und friedliche Versammlung an. Amnesty International führt derzeit eine Kampagne für das Recht auf Protest, das auch in der Schweiz auf verschiedene Weise eingeschränkt wird», sagt Alicia Giraudel, Juristin bei Amnesty Schweiz.

«Amnesty Schweiz hofft, dass das Obergericht Zürich in der heutigen Urteilsverkündung im Verfahren gegen einen der Aktivisten, der an der Aktion vom 4. Oktober 2021 in der Uraniastrasse in Zürich teilgenommen hat, die Warnung der Uno-Expert*innen berücksichtigen wird», erklärt Alicia Giraudel.

Hintergrund

Die Sonderberichterstatter*innen Clément Nyaletsossi Voule für die Rechte auf friedliche Versammlung und Vereinigung, David Boyd für Menschenrechte und Umwelt, Irene Khan für das Recht auf freie Meinungsäusserung, Mary Lawlor über die Situation von Menschenrechtsverteidiger*innen und Margaret Satterthwaite für die Unabhängigkeit von Richter*innen und Anwält*innen haben sich im Januar an die Schweiz gewandt. Die Schweiz hat Ende März auf ihr Schreiben geantwortet. Der Brief der Uno-Sonderberichterstatter*innen wurde unlängst auf der Website der Vereinten Nationen publiziert.

Es wurden strafrechtliche Verfahren gegen elf Aktivist*innen eingeleitet, die am 20. Juni 2020 und in der Woche vom 4. bis 8. Oktober 2021 in Zürich ihr Recht auf friedliche Versammlung ohne Bewilligung ausgeübt hatten. Alle gewaltfreien Aktionen hatten zum Ziel, auf die negativen Auswirkungen des Klimawandels aufmerksam zu machen und Massnahmen für Klimagerechtigkeit zu fordern. Einige dieser Aktionen wurden von der Umweltschutzbewegung «Extinction Rebellion» organisiert.

Am 20. Juni 2020 versuchten Demonstrant*innen während zwei Stunden auf der Quaibrücke in Zürich friedlich ihre Meinung zu äussern. Mindestens vier Menschenrechts- und Umweltschützer*innen wurden über zwei Stunden lang auf der Brücke eingekesselt, bevor sie festgenommen wurden. Anschliessend wurden sie wegen «Nötigung» (Art. 181 StGB) und «Störung von Betrieben, die der Allgemeinheit dienen» (Art. 239 Abs. 1 StGB) angezeigt und zu einer Geldstrafe verurteilt. Verurteilungen für diese Delikte führen zu einem Strafregistereintrag.

Ein erstinstanzlicher Richter sprach zwei der Menschenrechts- und Umweltschützer*innen frei. Bei der Urteilsverkündung erklärte er, dass es mit den Menschenrechten unvereinbar sei, Teilnehmer*innen einer kurzen friedlichen Klimakundgebung zu verurteilen. Dieser Richter sollte die Gerichtsverhandlungen zwei weiterer Demonstrant*innen führen. Aufgrund seiner Aussage ordnete das Obergericht des Kantons Zürich seinen Ausstand an.

Zwischen dem 4. und 8. Oktober 2021 fanden drei friedliche Versammlungen (Sit-ins) auf der Uraniastrasse in Zürich statt. Den Uno-Sonderberichterstatter*innen wurde folgender Sachverhalt zugetragen: Die Behörden gaben dem zuvor eingereichten Bewilligungsgesuch nicht statt. Kurz nach Beginn der Aktion wurden einige Teilnehmer*innen festgenommen. Mehrere Demonstrant*innen mussten ihre Fingerabdrücke abgeben und es wurden DNA-Proben genommen. In einem Fall wurden die Proben ohne Anordnung der Staatsanwaltschaft erhoben. Es wurden Leibesvisitationen durchgeführt. Eine Aktivistin befand sich während der Durchsuchung in einem Raum mit geöffneter Türe. Bei einer Person wurde ausserdem eine rektale Untersuchung durchgeführt. Sieben Personen wurden zwischen 41 und 49 Stunden auf der Polizeistation festgehalten, ohne dass sie der Staatsanwaltschaft vorgeführt wurden. Mehrere Personen wurden wegen «Nötigung» (Art. 181 StGB) strafrechtlich verfolgt, wobei eine Verurteilung einen Strafregistereintrag zur Folge hat.