© BASHAR TALEB/AFP via Getty Images
© BASHAR TALEB/AFP via Getty Images

Offener Brief Dringender Appell: Schweizer Verantwortung für den Schutz des Völkerrechts in Gaza

Medienmitteilung 28. Mai 2025, Bern – Medienkontakt
Angesichts der katastrophalen humanitären Lage in Gaza rufen zahlreiche NGOs, Hilfswerke, Expert*innen für Völkerrecht und weitere namhafte Persönlichkeiten aus Diplomatie, Wissenschaft und Kultur die Schweiz in einem dringenden Appell zum Handeln auf. Zu den Erstunterzeichnenden des offenen Briefs gehören auch die alt Bundesrätinnen Ruth Dreifuss und Micheline Calmy-Rey. Dem Bundesrat werden 10 konkrete Massnahmen zum Schutz des Völkerrechts in Gaza unterbreitet.

Die Unterzeichnenden des offenen Briefes verurteilen die Tatenlosigkeit der Schweiz angesichts der Tötung von Zehntausenden Zivilist*innen durch Israel – davon über ein Drittel Kinder –, der systematischen Blockade von humanitärer Hilfe, der gezielten Zerstörung von ziviler Infrastruktur und der massenhaften Vertreibung der Bevölkerung.

Der Appell wird von prominenten Personen mitgetragen. «Was die israelische Regierung in Gaza tut, ist untragbar – auch die Schweiz darf dazu nicht länger schweigen», sagt Reuven Bar Ephraïm, Rabbiner der jüdisch-liberalen Gemeinde Zürich.

Prof. Dr. Marcel Tanner, Epidemiologe/Public Health Experte sagt, wieso die Medizin und Wissenschaft ihre Stimme erhebt: «Die humanitäre Situation in Gaza ist katastrophal und eskaliert. Völkerrecht und die grundlegende Menschlichkeit werden weiter missachtet. Hunderttausende Zivilisten – vor allem auch Kinder – sind akut vom Tod durch Hunger, Krankheit und fehlende medizinische Versorgung bedroht. Wir alle sind in der Verantwortung und müssen jetzt handeln!»

Alt Bundesrätin Ruth Dreifuss sagt zu ihrer Unterschrift: «Auch die Schweiz muss sich für das Ende des Tötens in Gaza einsetzen. Es geht schon lange nicht mehr nur um die Einhaltung der Menschenrechte, sondern um die Wahrung der Menschlichkeit schlechthin.»

Die ehemalige Aussenministerin Micheline Calmy-Rey kommentiert: «Die Schweiz trägt als Depositarstaat der Genfer Konventionen eine besondere Verantwortung. Wenn in Gaza Völkerrecht und grundlegende Menschlichkeit systematisch verletzt werden, darf der Bundesrat nicht schweigen – sonst macht er sich mitverantwortlich. Er muss handeln und humanitäre Werte verteidigen.»

Bundesrat muss Einhaltung des Völkerrechts einfordern
«Der Bundesrat hat zwar vergangene Woche zusätzliche Nothilfe für die palästinensische Bevölkerung gesprochen. Doch das reicht nicht. Die offenkundige Zurückhaltung angesichts dokumentierter schwerster Verstösse Israels gegen das Völkerrecht untergräbt die Glaubwürdigkeit der internationalen Rechtsordnung» sagt Stephan Stadler, Präsident der Swiss Humanity Initiative.

Alexandra Karle, Geschäftsleiterin von Amnesty International Schweiz, ergänzt: «Mit seinem Schweigen riskiert der Bundesrat, dass die Schweiz eine völkerrechtliche Mitverantwortung für das Versäumnis der Prävention eines Völkermords trägt».

Die Unterzeichnenden fordern den Bundesrat auf, sich auf diplomatischer Ebene entschieden für einen sofortigen Waffenstillstand sowie für die Freilassung aller Geiseln und politischen Gefangenen einzusetzen – und ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe nach Gaza nachdrücklich einzufordern. Die Schweiz soll sich unmissverständlich für die Achtung des Völkerrechts und die Unabhängigkeit internationaler Strafverfolgungsorgane einsetzen sowie die laufenden Völkerrechtsverbrechen in Gaza klar als solche benennen. Zudem soll sie sämtliche Exporte von Kriegsmaterial und Dual-Use-Gütern aussetzen und Aufrufe israelischer Regierungsmitglieder zu völkerrechtswidriger Umsiedlung oder Deportation von Palästinenser*innen öffentlich verurteilen.

«Als Depositarstaat muss die Schweiz die Durchsetzung der Genfer Konventionen durch andere Staaten aktiv einfordern. Die Völkermordkonvention verpflichtet sie darüber hinaus klar zur Prävention und Bestrafung von Völkermord», sagt Shirine Dajjani von Palestine Solidarity Switzerland.

«Wir erwarten, dass der Bundesrat öffentlich Stellung bezieht und endlich seine Verantwortung gegenüber dem Völkerrecht wahrnimmt. Wir fordern eine Überprüfung der gesamten Nahostpolitik der Schweiz hinsichtlich ihrer menschenrechtlichen und völkerrechtlichen Kohärenz sowie eine öffentliche Rechenschaft über diese Politik», sagt Guy Bollag von der Organisation Jüdische Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel/Palästina JVJP.

Die Unterzeichnenden fordern den Bundesrat auf, umgehend folgende 10 Massnahmen zu ergreifen:

  1. Diplomatischer Einsatz für Waffenstillstand

    Gemäss Art. 1 der Genfer Konventionen fordern wir Sie auf, sich aktiv und öffentlich für einen sofortigen Waffenstillstand und den Schutz der Zivilbevölkerung in Gaza und dem Westjordanland einzusetzen.

  2. Humanitärer Zugang und UNRWA-Finanzierung

    Setzen Sie sich gemäss Art. 23 der IV. Genfer Konvention für den ungehinderten Zugang humanitärer Hilfe nach Gaza ein und stellen Sie die vollumfängliche finanzielle Unterstützung des Uno-Hilfswerks für Palästinaflüchtlinge UNRWA wieder her.

  3. Freilassung aller israelischen Geiseln und unrechtmässig inhaftierten palästinensischen Gefangenen

    Gemäss Artikel 34 der IV. Genfer Konvention ist die Geiselnahme verboten. Wir fordern Sie auf, sich für die bedingungslose Freilassung aller zivilen Geiseln einzusetzen. Ebenso fordern wir ein entschiedenes Eintreten für die Freilassung aller palästinensischen Gefangenen, die ohne Anklage, ohne faires Verfahren oder entgegen rechtsstaatlichen Grundsätzen festgehalten werden.

  4. Öffentliche rechtliche Einordnung der Lage in Gaza

    Gemäss Art. 1 der Völkermordkonvention hat die Schweiz die Pflicht zur Prävention und Bestrafung eines drohenden oder stattfindenden Völkermords. Wir fordern eine offizielle Stellungnahme des Bundesrats zur Plausibilität eines Völkermords in Gaza gemäss Definition des IGH, die sich auf die Völkermordkonvention stützt.

  5. Kooperation mit und Unterstützung von internationalen Strafverfolgungsorganen

    Gemäss dem Römer Statut und dem Bundesgesetz über internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRSG) ist die Schweiz verpflichtet, mit dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) zu kooperieren. Wir fordern, dass sich die Schweiz ausdrücklich zur Unterstützung des IStGH bei der strafrechtlichen Aufarbeitung von mutmasslichen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord bekennt – unabhängig von der Täterseite – und ihre finanzielle Unterstützung für den IStGH deutlich verstärkt.

  6. Suspendierung sicherheitsrelevanter Exporte

    Gemäss Artikel 22 des Kriegsmaterialgesetzes dürfen Ausfuhren nicht erfolgen, wenn das Risiko besteht, dass sie zur Begehung schwerer Menschenrechtsverletzungen verwendet werden. Wir fordern, dass alle Exporte von Kriegsmaterial, Dual-Use-Gütern und Überwachungstechnologie nach Israel ausgesetzt werden, solange der Verdacht von Völkerrechtsverbrechen besteht.

  7. Verurteilung von Aufrufen zur illegalen Umsiedlung oder Deportation

    Öffentliche Aufrufe zur Vertreibung einer Bevölkerungsgruppe verletzen das humanitäre Völkerrecht und die Uno-Charta. Wir fordern eine klare und explizite Verurteilung völkerrechtswidriger Aussagen israelischer Regierungsmitglieder.

  8. Unterstützung und Ausbau wirtschaftlicher Massnahmen zum Schutz des Völkerrechts

    Die Schweiz ist gemäss dem IGH-Gutachten vom 19. Juli 2024, das die Rechtswidrigkeit der israelischen Besatzung feststellt, sowie nach ihrer nationalen Gesetzgebung verpflichtet, Massnahmen zu ergreifen, um die Einhaltung des Völkerrechts sicherzustellen. Der Bundesrat soll sicherstellen, dass die Schweiz nicht durch Handel, Investitionen oder andere Wirtschaftsbeziehungen dazu beiträgt, die illegale Besatzung der Palästinensischen Gebiete aufrechtzuerhalten, wo nötig in Abstimmung mit der EU.

  9. Einsatz für eine politische Lösung auf Basis des Völkerrechts

    Das erklärte Ziel der Schweizer Nahostpolitik ist eine Zwei-Staaten-Lösung. Die Schweiz soll sich für eine Lösung einsetzen, die Menschenrechte achtet, die Blockade des Gazastreifens aufhebt, illegale Siedlungen beseitigt, das Rückehrrecht achtet sowie grundsätzlich gleiche Rechte für Palästinenser und Israelis gewährleistet.

    Besonderes Augenmerk gilt der Beseitigung israelischer Strukturen, die nach Einschätzung des IGH und weiterer Uno-Gremien gegen das völkerrechtliche Verbot von Apartheid verstossen.

  10. Verpflichtung zur präventiven Völkerrechtspolitik

    Gemäss Art. 1 der Genfer Konventionen muss die Schweiz alles in ihrer Macht Stehende unternehmen, um Völkerrechtsverstösse zu verhindern. Wir fordern eine Überprüfung der gesamten Nahostpolitik der Schweiz hinsichtlich ihrer menschenrechtlichen und völkerrechtlichen Kohärenz sowie eine öffentliche Rechenschaft über diese Politik. Rund 100 bekannte Persönlichkeiten und Organisationen sind Erstunterzeichnende dieses Appells.