Stellungnahmen von
Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatović
Sonderberichterstatter*innen der Uno: Stellungnahme
Sonderberichterstatter*innen der Uno: zweite Stellungnahme
Schweizer Mitglieder des Uno-Ausschusses für die Rechte des Kindes
Rechtsexpert*innen Schweizer Universitäten
Kritik von weiteren Organisationen (Links)
Vage Definition mit grossen Risiken
Die Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatović, forderte die Schweizer Gesetzgebenden in einem Brief auf, den Entwurf des Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT) auf die Vereinbarkeit mit den Menschenrechtsverpflichtungen zu überprüfen. Sie war besonders beunruhigt über die vage Definition eines «terroristischen Gefährders» und das Fehlen ausreichender rechtlicher Garantien in Bezug auf administrative Massnahmen, die das Bundesamt für Polizei (fedpol) ausserhalb eines Strafverfahrens gegen eine Person verhängen kann. «Das Fehlen einer klaren und präzisen Definition öffnet den Weg für eine weite Auslegung, die das Risiko eines unverhältnismässigen und willkürlichen Eingriffs in die Menschenrechte birgt», schrieb sie und fügte hinzu, dass schon der Begriff des «terroristischen Gefährders» zu einer Stigmatisierung führen kann.
Die Kommissarin unterstrich die Schwere der vorgesehenen Massnahmen, insbesondere den im Gesetz vorgesehenen Hausarrest. Eine solch schwerwiegende Massnahme, die potenziell bis zu neun Monate dauern kann, könne aus menschenrechtlicher Sicht kaum als «verhältnismässig und notwendig in einer demokratischen Gesellschaft» erachtet werden. Besonders problematisch ist ihrer Ansicht nach, dass diese Massnahmen durch eine Entscheidung ausserhalb des Strafrechtssystems und der darin vorgesehenen Garantien und ohne aufschiebendes Rechtsmittel verhängt werden können.
Die Kommissarin äusserte besondere Besorgnis über die Anwendung polizeilicher Massnahmen auf Kinder, «ausserhalb der Jugendgerichtsbarkeit und ohne angemessene rechtliche Garantien» und erklärte, dass «solche Massnahmen keine ausreichende Gewähr für einen kindgerechten Rahmen bieten, auch nicht für Minderjährige, die Gefahr laufen könnten, sich künftig an den im Gesetz erwähnten «terroristischen Aktivitäten» zu beteiligen».
Sie erinnerte daran, dass der Respekt der Menschenrechte im Kampf gegen Terrorismus im Vordergrund stehen muss: «Eine Politik, die die Menschenrechte achtet, bewahrt die Werte, die Terroristen zu zerstören versuchen, schwächt die Unterstützung für gewalttätigen Extremismus durch jene, die versucht sein könnten, sich ihm anzuschliessen, und stärkt das öffentliche Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit».
Stellungnahme der Menschenrechtsbeauftragten es Europarates, Mai 2020 (in Englisch):
Swiss lawmakers should review draft legislation on police counterterrorism measures to ensure respect for human rights
Schwere Folgen für die Menschenrechte
Fünf Sonderberichterstatter*innen der Uno wandten sich in einem Schreiben an die Schweizer Gesetzgebenden und baten sie den Gesetzesentwurf zu überarbeiten. Die Expert*Innen stellten fest, dass die Massnahmen eine Reihe von Menschenrechten beeinträchtigen könnten, darunter die Bewegungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit sowie das Recht auf Privat- und Familienleben. Unter bestimmten Umständen könne auch das Recht auf Arbeit, das Recht auf Bildung oder das Recht auf Teilnahme am religiösen und kulturellen Leben der Person eingeschränkt werden.
Sie äusserten Besorgnis darüber, dass es dem Gesetzesentwurf an der notwendigen Klarheit fehlt, um sicherzustellen, dass die im Rahmen des Gesetzes getroffenen Massnahmen notwendig und verhältnismässig sind. Sie wiesen darauf hin, dass die Definition eines «terroristischen Gefährders» nicht genügend ausdifferenziert ist und die Ausweitung der Definition von Terrorismus auf jede gewaltfreie Tätigkeit, die die Verbreitung von Furcht zur Folge haben könnten, weit über das nationale Schweizer Recht hinausgeht und internationale Standards verletzt. Zudem erklärten sie, dass «Handlungen, die darauf abzielen, die staatliche Ordnung zu beeinflussen oder zu verändern, eine Reihe von Verhaltensweisen umfassen können, die nicht terroristischer Natur sind». Die Expert*innen bemängelten auch das Ermessen, das dem Bundesamt für Polizei (fedpol) hinsichtlich dieser vagen und unpräzisen Definitionen im Gesetz eingeräumt wird sowie die fehlenden Garantien, einschliesslich der gerichtlichen Genehmigung und Überprüfung.
Die Sonderberichterstatter*innen kritisierten, dass der im Gesetz vorgesehene Hausarrest weniger strengen Standards und Schutzmechanismen unterliegt als der strafrechtliche Freiheitsentzug und damit die in der EMRK verankerten Verfahrensgarantien und Bedingungen umgangen werden.
Die Expert*innen betonten die tiefgreifenden Auswirkungen der Massnahmen auf die Rechte der Kinder, insbesondere des Rechts auf Bildung. Sie äusserten Besorgnis über die möglichen Folgen der Stigmatisierung von Minderjährigen aufgrund ihrer möglichen Einstufung als «terroristische Gefährder» und die daraus folgende Marginalisierung und diskriminierenden Behandlung in verschiedenen sozialen Kontexten.
Stellungnahme der Uno-Sonderberichterstatter*innen, Mai 2020 (PDF, in Französisch, 16 Seiten)
Modell für autoritäre Regierungen
In einer weiteren Stellungnahme stellten die Sonderberichterstatter*innen fest, dass ihnen die Schweiz hinsichtlich ihrer Bedenken über die Unvereinbarkeit des Gesetzentwurfs mit den Menschenrechten «keine zufriedenstellende Antwort» gegeben hatte. Sie erklärten, dass die «übermässig breite Definition der «terroristischen Aktivität» sogar rechtmässige Handlungen umfassen könnte, die darauf abzielen, die verfassungsmässige Ordnung zu beeinflussen oder zu verändern, wie z. B. legitime Aktivitäten von Journalist*innen, der Zivilgesellschaft und politischen Aktivist*innen» und damit «einen gefährlichen Präzedenzfall schafft und das Risiko birgt, als Modell für autoritäre Regierungen zu dienen, die versuchen, politischen Dissens zu unterdrücken, einschliesslich durch Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung.»
Die Experten riefen deshalb die Parlamentarier*innen erneut dazu auf, ein Gesetz abzulehnen, das «zwangsläufig zu einem grossen Schandfleck für das ansonsten starke Menschenrechtserbe der Schweiz werden wird».
Der Uno-Experte für Folter, Nils Melzer, sagte gegenüber dem Schweizer Fernsehen SRF : «Die neue Terrorismusdefinition der Schweiz ist jenseits von dem, was in einem Rechtsstaat akzeptabel ist.» Da Terrorismus ohne Gewalt definiert sei, könne im Prinzip jede politische Aktivität, die der Regierung missfalle, als terroristische Aktivität interpretiert werden, so Melzer.
Zweites Statement der Uno-Sonderberichterstatter*innen, September 2020
Verletzung der Kinderrechtskonvention
Ein Mitglied und der ehemalige Präsident des Uno-Ausschusses für die Rechte des Kindes kritisierten die Gesetzesvorlage scharf: «Wie in vielen anderen Ländern gilt auch in der Schweiz ein besonderes Recht für Kinder und Jugendliche, die Straftaten begehen. Dies beruht auf der Notwendigkeit, Kinder aufgrund ihres Alters, ihrer Verletzlichkeit und ihrer besonderen Bedürfnisse anders zu behandeln als Erwachsene». Der Polizei die Macht zu geben, Zwangsmassnahmen gegen 12-jährige Kinder zu ergreifen, stelle eine Verletzung der «Verpflichtungen dar, die sich aus der von der Schweiz ratifizierten Kinderrechtskonvention ergeben.»
Gemäss der Kinderrechtsexpert*innen darf «eine wirksame Strategie zur Terrorismusbekämpfung die Menschenrechte nicht ausser Acht lassen». Im Gegenteil, sie sollte «diese Rechte respektieren und die besonderen Bedürfnisse der Jugendlichen, ihre Integration und Bildung berücksichtigen». Sie forderten deshalb die Politiker*innen auf, nochmals über die Bücher zu gehen.
Stellungnahme von Schweizer Mitgliedern des Uno-Ausschusses für die Rechte des Kindes, Mai 2020 (aus: Le Temps, in Französisch)
Öffnet der Willkür Tür und Tor
Kurz vor der Schlussabstimmung im Parlament warnten über sechzig Rechtsexpert*innen von allen Schweizer Universitäten vor dem Willkürpotenzial dieser Gesetzesvorlage. Im Zentrum ihrer Kritik steht der extrem unpräzise und von Subjektivität geprägte Begriff des «terroristischen Gefährders», welcher «Willkür Tür und Tor öffnet». Die Rechtsexpert*innen bemängelten die unzureichende richterliche Kontrolle, die fehlenden verfahrensrechtlichen Garantien, die Einführung einer Gefährlichkeitsvermutung, die Unvereinbarkeit des Hausarrests mit der EMRK sowie die Aushebelung des Schutzes von Minderjährigen. Sie äusserten zudem Besorgnis aus, dass «die Grundrechte von durch PMT betroffenen Personen verletzt werden und es zu einer hohen Anzahl an «falsch-positiven Ergebnissen» kommen kann».
Schliesslich baten sie die Gesetzgebenden, sich zu besinnen: «Es ist ein starker Rechtsstaat, dessen die Schweiz bedarf, um der terroristischen Bedrohung entgegenzutreten. Die Gesetzesvorlage ist hingegen höchst problematisch mit Blick auf die Bundesverfassung und internationale Menschenrechtsabkommen. Ihre Annahme würde unseren Rechtsstaat aushöhlen.»
Offener Brief von über 60 Rechtsexpert*innen, September 2020 (PDF, 7 Seiten)
Kritik von weiteren Organisationen
NGO-Plattform Menschenrechte Schweiz, Oktober 2019