Die Zwangsmassnahmen können auch gegen MInderjährige eingesetzt werden. © stock City / shutterstock.com
Die Zwangsmassnahmen können auch gegen MInderjährige eingesetzt werden. © stock City / shutterstock.com

Polizeigesetz gegen Terrorismus Vage Begriffe mit gefährlichen Folgen

1. März 2021
Das neue Polizeigesetz erlaubt dem Bundesamt für Polizei (fedpol), Zwangsmassnahmen gegen Personen und selbst gegen Kinder einzusetzen − einzig aufgrund der Annahme, diese könnten in Zukunft gefährlich werden. Die Massnahmen wie elektronische Fussfesseln oder Reiseverbot soll die fedpol eigenmächtig anordnen dürfen, ohne Tatverdacht oder rechtliches Verfahren. Die im Gesetz enthaltenen vagen Begriffe und der Handlungsspielraum, der fedpol gewährt wird, gefährden die Menschenrechte in der Schweiz.

Mit dem neuen Bundesgesetz über Polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT) soll das Bundesamt für Polizei fedpol auf Antrag des Nachrichtendienstes und kantonaler oder kommunaler Behörden folgende Zwangsmassnahmen anordnen können: Melde- und Gesprächsteilnahmepflichten, Kontaktverbote, Ein- und Ausgrenzungen (Rayonverbote), Ausreiseverbote und -beschränkungen, elektronische Überwachung und Mobilfunklokalisierungen sowie Eingrenzungen auf eine Liegenschaft (Hausarrest).

Willkür statt Rechtsstaat

Eine strafrechtlich unauffällige Person, die aufgrund von nachrichtendienstlichen Hinweisen als möglicherweise gefährlich eingestuft wird, kann so ohne Anfangsverdacht auf eine Straftat zum Opfer polizeilicher Massnahmen werden, die erhebliche Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen und ihrer Familien haben kann. Schon durch tägliche Melde- und Gesprächspflichten oder Eingrenzungsmassnahmen kann es für die Betroffenen beispielsweise unmöglich werden, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Mehrere unabhängige Fachpersonen und Gremien auf internationaler und nationaler Ebene haben diese Zwangsmassnahmen als missbräuchliche Einschränkung einer Reihe von Menschenrechten – insbesondere des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens, auf Arbeit, auf ein faires Verfahren, auf Bewegungsfreiheit und auf einen Rechtsbehelf – kritisiert.

Amnesty International hatte sich bereits in der Vernehmlassung und in der parlamentarischen Beratung entschlossen gegen dieses Gesetz ausgesprochen, das unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung die rechtsstaatlich abgesicherten Grenzen des staatlichen Handelns in einen Bereich verschiebt, der bislang zurecht unantastbar blieb, nämlich die Kontrolle des Privatlebens von unschuldigen Personen. Das Polizeigesetz stellt für den Rechtsstaat einen gefährlichen Bruch dar und erinnert an Methoden autoritärer Regimes, die im schweizerischen Recht keinen Platz haben.

Rechtsbegriffe, die Missbrauch Tür und Tor öffnen

Das Polizeigesetz bedient sich absichtlich vager Rechtsbegriffe, die den Behörden einen enormen Interpretationsspielraum lassen. Für die Anordnung der polizeilichen Massnahmen reichen der fedpol «Anhaltspunkte», die darauf hinweisen, dass die betroffene Person in ungewisser Zukunft «eine terroristische Aktivität ausüben wird». Die Grundlage der präventiven Gefahrenabwehr bilden demnach polizeiliche Mutmassungen über allfällige künftige strafbare Handlungen, wenn ein strafrechtlich relevanter Verdacht noch fehlt.

Als «terroristische Aktivität» gelten im Gesetz «Bestrebungen zur Beeinflussung oder Veränderung der staatlichen Ordnung», unter anderem durch die «Verbreitung von Furcht und Schrecken». Bei dieser Definition wird weder ein Strafdelikt vorausgesetzt noch die Anwendung oder Androhung von Gewalt, was die internationalen Standards verlangen. Mit diesem weit offenen Rechtsbegriff kann selbst legitimer politischer Protest wie etwa der Klimastreik als «terroristisch» erachtet werden.

Die Auslegung dieser bewusst vagen gehaltenen Kriterien liegt ausschliesslich im Ermessen der fedpol und sie stützt sich in der Regel auf geheime, nachrichtendienstliche Informationen, die sich nicht oder nur schwer überprüfen lassen. Fedpol wird ermächtigt, nach eigenem Ermessen, ohne richterliche Genehmigung (mit Ausnahme des Hausarrests), schwere Eingriffe in die Grund- und Menschenrechte zu veranlassen.

Prognosen über die potenzielle Gefährlichkeit einer Person sind immer problematisch und stark durch Subjektivität geprägt, wobei oft Vorurteile und Stereotype ins Spiel kommen. Der Bundesrat hat in seiner Botschaft zum Gesetz selbst festgestellt, dass die notwendige Gefährlichkeitseinschätzung mit «prognostischer Unsicherheit verbunden» ist. Die Zuverlässigkeit von Gefährlichkeitsprognosen ist selbst in den Händen forensischer Psychiater*innen und im wissenschaftlichen Kontext stark umstritten. Zur Klassifizierung einer Person als «potenziell gefährlich» braucht die fedpol nun aber weder den Erfahrungsbezug noch eine wissenschaftliche Methode, sondern nur die Annahme, diese Person könnte später einmal gefährliche Taten begehen. Davor ist allerdings kein Mensch gefeit, denn «potenziell gefährlich» sind wir alle. Und wir alle können unter Umständen zur Zielscheibe der Massnahmen werden.

Folglich bietet dieses Gesetz aufgrund seiner unbestimmten Begriffe den Nährboden für Willkür und Missbrauch sowie das Risiko, dass viele Menschen aufgrund ihrer persönlichen Einstellungen und Äusserungen unter Generalverdacht geraten.

Meinungsfreiheit in Gefahr

Gemäss menschenrechtlichen Standards sind Äusserungen, die nicht als «Aufruf zur Gewalt» einzustufen sind, durch die Meinungsfreiheit geschützt, auch wenn sie beleidigend oder kontrovers erscheinen. Wenn durch die fraglichen Äusserungen nicht unmittelbar die Gefahr einer konkreten Gewalttat besteht, dann ist eine Einschränkung der Meinungsfreiheit nicht gerechtfertigt.

Die im Gesetz vorgesehene vage und weit gefasste Definition einer «terroristischen Aktivität» birgt die Gefahr, Handlungen zu verfolgen, die im Hinblick auf das Recht auf freie Meinungsäusserung legitim sind. Das Gesetz könnte eine abschreckende Wirkung auf die Meinungs- und Pressefreiheit haben und viele Menschen, darunter politische Aktivistinnen oder Journalisten, zur Selbstzensur drängen. Es wird Personen einschüchtern, die sich im Rahmen einer öffentlichen und kontroversen Debatte äussern wollen, und sie von kritischen Äusserungen abhalten, die nicht mit denen der Behörden übereinstimmen; es droht ein Chilling Effect für die Zivilgesellschaft.

Umgehung von Strafjustiz und Verfahrensgarantien

Ein Staat übt in der Regel seine Befugnis aus, die persönliche Freiheiten und die Privatsphäre einer Person einzuschränken, wenn der begründete Verdacht besteht, dass sie eine Straftat begangen hat. Damit untersteht diese Person der Strafjustiz und der mit ihr einhergehenden Schutzgarantien.

Mit dem neuen Polizeigesetz wird jedoch eine Verwaltungsbehörde (fedpol) ermächtigt, Zwangsmassnahmen zu verhängen, die in ihrem Charakter strafrechtlichen Massnahmen gleichkommen und schwerwiegende Einschränkungen der Menschenrechte darstellen, und dies nur aufgrund eines sehr vagen Verdachts und nicht auf der Basis tatsächlich begangener Straftaten. Derartige präventiven Verwaltungsmassnahmen sind dem Strafrecht vorgelagert und führen zur Umgehung der regulären Strafjustiz, ihrer Grundsätze und verfahrensrechtlichen Garantien, denn die Behörden beabsichtigen nicht, gegen die betroffenen Personen zu ermitteln oder sie strafrechtlich zu verfolgen. Stellen die Massnahmen sogar einen Freiheitsentzug dar (im Fall des Hausarrest) wird das Strafverfahren gänzlich ersetzt. Diese bewusste Abkehr von der Strafjustiz ist besorgniserregend und fördert ein paralleles Rechtssystem.

Die Betroffenen werden kaum eine Möglichkeit haben, sich gegen die Massnahmen zu wehren, denn die strafrechtlichen Verfahrensgarantien gelten nur selten oder gar nicht im Verwaltungskontext. Insbesondere findet – mit Ausnahme des Hausarrests – keine vorgängige gerichtliche Kontrolle über die Verhängung der Massahmen statt. Zwar kann eine betroffene Person gegen einen Entscheid der fedpol im Nachhinein Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht einlegen; doch diese hat keine aufschiebende Wirkung.

Auch die Beweislage wird intransparent sein, beruht doch die Massnahme in den meisten Fällen auf Informationen des Nachrichtendienstes, zu denen die betroffene Person in der Regel keinen Zugang hat. Somit sind ihr die genauen Verdachtsgründe bzw. «Anhaltspunkte» gar nicht bekannt, was das Anfechten der Massnahmen erheblich erschwert. Die Verwendung geheimer Informationen untergräbt zudem die Unschuldsvermutung und das Recht auf ein faires Verfahren. Die Beweislast wird umgekehrt, denn es liegt ja gar kein Delikt vor, das die Behörden beweisen müssen. Im Gegenteil, die Zielperson muss den unmöglichen Beweis erbringen, dass sie keine «potenziell gefährliche Person» ist – eine wahrhaft absurde Situation. Mit der Umkehr der Beweislast und der fehlenden systematischen Verhältnismässigkeitsprüfung durch ein unabhängiges Gericht hebelt das Gesetz rechtsstaatliche Grundsätze aus, deren Sinn und Zweck insbesondere in der Abwehr staatlicher Willkür liegen. Somit werden die betroffenen Personen ohne faires Gerichtsverfahren und ohne effektive Möglichkeit, diese Massnahmen anzufechten, präventiv bestraft.

Trend zur präventiven Gefahrenabwehr

Das präventive Instrumentarium zur Bekämpfung von terroristischen Aktivitäten wurde in der jüngsten Zeit  kontinuierlich ausgebaut: mit dem Nationalen Aktionsplan zur Prävention von Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus, dem Nachrichtendienstgesetz, als auch durch neue Straftatbestände und erhöhte Höchststrafen im Strafgesetzbuch. Eingeführt wurde dort eine neue Strafnorm gegen die «Rekrutierung, Ausbildung und Reisen im Hinblick auf die Begehung einer terroristischen Straftat» (Art. 260sexies StGB). Damit kam es zu einer starken Vorverlagerung der Strafbarkeit in den abstrakten Bereich: Handlungen werden unter Strafe gestellt, die sich auf potenzielle zukünftige Terrorakte beziehen und diesen allfälligen Delikten zeitlich weit voraus liegen. Diese präventiven Strafrechtsbestimmungen gehen bereits sehr weit und sind ausreichend, um möglichen Gefahren zu begegnen. Das neue Polizeigesetz macht nun einen noch grösseren Schritt in Richtung Pre-Crime und präventive Abwehr von Handlungen, die nicht einmal als Strafdelikt erkennbar sind.

Stigmatisierende Massnahmen

Beim Polizeigesetz besteht zudem die Gefahr, dass sich der Verdacht nicht mehr wie im Strafrecht gegen bestimmte Individuen richtet, sondern als Generalverdacht gegen ganze Gruppen, in denen «Gefährder*innen» vermutet werden. Wie sollen denn potenziell gefährliche Personen überhaupt erkannt werden? Eine Kombination von Merkmalen (Alter, Geschlecht, Herkunft, Religion, …) wird für die Behörden zum Ausgangspunkt für ein Profiling und für Überwachung – und für die Betroffenen zu einem Risikofaktor. Dieses Vorgehen kann zur Stigmatisierung und Marginalisierung ganzer Bevölkerungsgruppen führen. Eine solche Sicherheitspolitik, die Einschränkungen oder gar Verletzungen der Menschenrechte in Kauf nimmt, ist kurzsichtig. Eine wirksame Prävention strafrechtlich relevanter Handlungen sollte die Einhaltung der Menschenrechte in den Mittelpunkt stellen. Sie sollte gesellschaftliche Ausgrenzung verhindern und sicherstellen, dass jeder Mensch die Möglichkeit hat, sich in die Gesellschaft zu integrieren.

Freiheitsentzug ohne Anklage oder Strafverfahren

Am weitesten in die Freiheitsrechte greift die Massnahme der Eingrenzung auf eine Liegenschaft (Hausarrest) ein, denn diese stellt gemäss Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte einen Freiheitsentzug dar. Der Hausarrest soll dann zur Anwendung gelangen, wenn andere präventive Massnahmen nicht eingehalten werden und die betroffene Person «eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter» darstellt.

Der präventive Hausarrest untersteht, aufgrund einer fehlenden Verurteilung, den verfassungs- und konventionsrechtlichen Anforderungen des sicherheitspolizeilichen Gewahrsams. Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) erachtet diesen nur dann als zulässig, wenn er keinen Strafcharakter besitzt und unmittelbar die Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung erzwingt (Art. 5 Ziff. 1 lit. b EMRK). Als Strafmassnahme bei Verstössen gegen polizeiliche Anordnungen stellt der Hausarrest aber vielmehr eine Freiheitsstrafe ohne Anklage, ohne Strafverfahren und ohne Verurteilung dar. Darüber hinaus ist höchst fraglich, inwiefern er zur Durchsetzung anderer Präventivmassnahmen, beispielsweise einer Gesprächsteilnahmepflicht oder eines Kontaktverbots, beitragen soll.

Des Weiteren ist der polizeiliche Gewahrsam nur zulässig, wenn die berechtigte Annahme besteht, dass eine nach Ort, Zeit und möglichen Verletzten bestimmbare und erhebliche Straftat oder die Verletzung von wichtigen Polizeigütern bevorsteht (Art. 5 Ziff. 1 lit. b. und c EMRK). Der Wortlaut des Gesetzes erlaubt den Hausarrest jedoch auch in Fällen, in denen zwar erfahrungsgemäss eine allgemeine Gefahr besteht, die Begehung einer konkreten und schweren Straftat aber nicht angenommen werden kann. Somit ist der im Polizeigesetz vorgesehene Hausarrest mit Art. 5 EMRK unvereinbar.

Schliesslich ist diese Bestimmung überflüssig. Bereits heute kann eine Person bei Androhung eines schweren Verbrechens (Ausführungsgefahr) gemäss Art. 221 Absatz 2 der Strafprozessordnung (StPO) in Haft versetzt werden – auch ohne konkreten Tatverdacht. Darüber hinaus bestehen in den kantonalen Polizeigesetzen zahlreiche Bestimmungen zur konkreten Gefahrenabwehr.

Das Kindeswohl mit Füssen getreten

Das Polizeigesetz sieht vor, dass die Anordnung von Zwangsmassnahmen gegen 12-jährige Kinder und Hausarrest gegen 15-jährige Jugendliche zulässig sein soll. Diese tiefen Altersgrenzen stehen im Konflikt mit dem Schweizer Jugendstrafrecht und den menschenrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz aus der Uno-Kinderrechtskonvention.

Gemäss der Uno-Kinderrechtskonvention (KRK)  sollten sich alle Massnahmen, welche Personen betreffen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, am «Kindeswohl» orientieren (Art 3 Abs. 1 KRK). Bezüglich des Kindeswohlprinzips hat der Uno-Ausschuss für die Rechte des Kindes unterstrichen, dass «Schutz und Betreuung» gewährt werden sollten, die das «Wohlergehen und die Entwicklung des Kindes sicherstellen. Das Wohlergehen von Kindern umfasst in einem ihre grundlegenden materiellen, körperlichen, erzieherischen und emotionalen Bedürfnisse sowie ihre Bedürfnisse nach Zuneigung und Sicherheit» (Allgemeine Bemerkung N°14, Paragraph 71).

Die Uno-Kinderrechtskonvention sieht auch vor, dass Kinder, die mit dem Recht in Konflikt stehen in einer Weise zu behandeln, die ihr Gefühl «für die eigene Würde und den eigenen Wert» aufbaut, ihre «Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten anderer stärkt», das Kindesalter berücksichtigt und die «soziale Wiedereingliederung sowie die Übernahme einer konstruktiven Rolle in der Gesellschaft» fördert (Art. 40 Abs.1 KRK).

Mit der Ratifikation der Kinderrechtskonvention hat die Schweiz sich dazu verpflichtet, im Umgang mit Kindern im Justizsystem der Resozialisierung den Vorrang einzuräumen. Entsprechend hat das Schweizerische Jugendstrafrecht den «Schutz und die Erziehung» von Jugendlichen zum Grundsatz erklärt (Art. 2 Abs. 1 JStG). In diesem Sinne müssen Sanktionen zwar Grenzen setzen, jedoch stets eine erzieherische Wirkung entfalten.

Im Widerspruch zu den menschenrechtlichen Vorgaben hat das Polizeigesetz eine Stigmatisierung von Kindern und Jugendlichen zur Folge. Minderjährigen fehlt aufgrund ihres Alters oft die Fähigkeit, die Konsequenzen ihrer Handlungen richtig abzuschätzen – ein Aspekt, der berücksichtigt werden müsste. Der rechtliche Widerspruch verschärft sich insofern weiter, als das Gesetz den Minderjährigen unter den polizeilichen Massnahmen keine besonderen Verfahrensrechte zugesteht.

Obwohl im Bildungs- und Sozialbereich, im zivilrechtlichen Kindesschutz sowie im (Jugend-)Strafrecht bereits hinreichende präventive Instrumente zur Verfügung stehen, würden die Menschenrechte von Kindern sowie Jugendlichen durch das Polizeigesetz bedingungslos eingeschränkt.