Nein zur Volksinitiative «Zur Durchsetzung der Ausschaffung krimineller Ausländer» (Durchsetzungsinitiative)
Argumentarium
1. Hintergrund
Im November 2010 nahmen Volk und Stände die Initiative «Für die Ausschaffung krimineller Ausländer» (sogenannte «Ausschaffungsinitiative») an. Das von der SVP lancierte Volksbegehren forderte, dass Ausländerinnen und Ausländer systematisch des Landes zu verweisen seien, wenn sie eines aus einer ganzen Liste von mehr oder minder schweren Delikten – von Mord bis «Missbrauch des Sozialwesens» – für schuldig befunden worden waren. Einen Gegenvorschlag des Bundesrates lehnten die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger in der gleichen Abstimmung ab.
Die undifferenzierte Initiative liess Ausnahmen nur gerade noch zur Einhaltung des «Non-Refoulement-Prinzips» (Rückschiebungsverbot) als Teil des zwingenden Völkerrechts (ius cogens) zu. Sie verletzte das in der Verfassung verankerte Prinzip der Verhältnismässigkeit, die Europäische Menschenrechtskonvention sowie die Personenfreizügigkeitsabkommen mit der Europäischen Union. Amnesty International hatte sich aus diesen Gründen für eine Ablehnung der Volksinitiative ausgesprochen.
Das mit der Umsetzung des Volksbegehrens beauftragte Parlament erarbeitete und verabschiedete in der Folge nach langen Diskussionen eine Umsetzungsgesetzgebung, die sich auf den Gegenvorschlag des Bundesrates stützte. Die Auswirkungen der Initiative sollten dabei mittels einer Härtefallklausel abgefedert werden. Die SVP verweigerte diesem Gesetzestext zwar ihre Zustimmung, ergriff aber nicht das Referendum. Das Gesetz hätte damit in Kraft treten können, hätte die SVP nicht eine zweite Initiative, die sogenannte «Durchsetzungsinitiative», lanciert, die eine buchstabengetreue Umsetzung des Textes der Ausschaffungsinitiative in der Bundesverfassung fordert.
Der Initiativetext
Der Wortlaut der Initiative «Zur Durchsetzung der Ausschaffung krimineller Ausländer» ist extrem komplex und kommt als drei Seiten langer Gesetzestext daher, also nicht in Form eines Verfassungsartikels. Er fordert die automatische Landesverweisung jedes Ausländers und jeder Ausländerin, der oder die ein Delikt gemäss einer Liste von 25 Vergehen begangen hat, unabhängig vom verhängten Strafmass. Die Liste der Straftaten reicht von vorsätzlicher Tötung über Einbruchsdelikte bis zu Sozialhilfemissbrauch.
Im Weiteren verlangt der Text den automatischen Landesverweis für alle, die wiederholt eine Straftat aus einer Liste von 40 weiteren geringfügigen bis schweren Vergehen begangen haben. Diese zweite Deliktliste reicht von Kreditkartenmissbrauch bis zu sexuellen Handlungen mit Kindern.
Ausnahmen von der automatischen Ausschaffung würden einzig dann gemacht, wenn Art. 25 Abs. 2 und 3 der Bundesverfassung zur Anwendung kommt: Dieser verbietet eine Rückschiebung in Länder, in denen einer Person Verfolgung oder Folter drohen. Die Ausschaffung würde in solchen Fällen bis auf weiteres sistiert.
Gemäss dem Initiativtext – und dieser Punkt ist besonders brisant – hätten die Ausschaffungsbestimmungen zudem Vorrang gegenüber nicht zwingenden völkerrechtlichen Bestimmungen.
3. Argumente gegen die Initiative
a) Die Abstimmung über die Durchsetzungsinitiative ist mehr als nur eine zweite Abstimmung über die Ausschaffungsinitiative
- Der Titel der Initiative könnte vermuten lassen, dass es einfach um eine zweite Abstimmung über die Ausschaffungsinitiative geht, mit dem Ziel, das Resultat von 2010 zu bestätigen und – in den Worten der SVP – «den Volkswillen durchzusetzen». Doch die Durchsetzungsinitiative geht weit darüber hinaus. So, wie sie gestaltet ist, gefährdet sie die Grundpfeiler unserer Demokratie, namentlich die Gewaltentrennung und den Respekt von Minderheiten. Zudem stellt sie Schweizer Recht über Völkerrecht und ist damit ein gefährlicher Testlauf für die Initiative gegen «fremde Richter» (sogenannte «Selbstbestimmungsinitiative»), welche demnächst eingereicht werden dürfte.
- Die Durchsetzungsinitiative enthält einen weit umfangreicheren Katalog von Straftaten, die zur automatischen Landesverweisung führen würden, als die Ausschaffungsinitiative. Auch damit ist sie mehr als eine Wiederholung der Abstimmung von 2010. Sie fügt der Liste zudem leichte Vergehen hinzu, etwa die illegale Einreise oder Verstösse gegen das Betäubungsmittelgesetz, womit die Ausschaffung als Bestandteil der Strafe noch viel unverhältnismässiger wird.
b) Die Durchsetzungsinitiative gefährdet den Rechtsstaat
- Die Durchsetzungsinitiative hebelt den parlamentarischen Prozess aus: Das Parlament hat sich, nach langen und zähen Verhandlungen, zur Verabschiedung eines Gesetzes zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative durchgerungen. In Missachtung des erreichten Kompromisses zwischen allen Parteien will die SVP der Schweiz ihre eigene Gesetzesvorlage aufzwingen und sie via Verfassung durchsetzen. Zwar haben Volk und Stände das letzte Wort, jedoch werden auf diese Weise der parlamentarische Gesetzgebungsprozess und die Grundprinzipien unserer Demokratie umgangen.
- Der Automatismus bezüglich der Ausschaffungen würde auch das richterliche Ermessen aushebeln. Wer einer Straftat für schuldig befunden wird, wird (mit Ausnahme von Fällen, die unter das Rückschiebungs-Verbot fallen) automatisch auch des Landes verwiesen, selbst wenn er oder sie seit mehr als 30 Jahren in der Schweiz lebt, vielleicht sogar hier geboren ist und möglicherweise keinerlei Beziehung zu seinem bzw. ihrem Heimatstaat hat. Mildernde Umstände gäbe es keine mehr, ausser bei Handlungen aus Notwehr oder Notstand. Eine Schutzklausel für Menschen, die bei einer Ausschaffung aus der Schweiz schwere Folgen zu erleiden hätten (Härtefallklausel) gäbe es nicht mehr. Die Initiative missachtet damit das in der Verfassung verankerte Prinzip der Verhältnismässigkeit.
- Indem die Initiative Bestimmungen des Landesrechts höher werten will als solche des Völkerrechts, wirft sie die Rechtsprechung des Bundesgerichts über den Haufen. Ausnahmen davon will sie nämlich nur zulassen, wenn zwingendes Völkerrecht entgegensteht. Das Bundesgericht hat jedoch klar festgehalten, dass internationale Verträge, zu deren Einhaltung sich die Schweiz mit der Ratifizierung verpflichtet hat – also etwa die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) oder die Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU – respektiert werden müssen. Die Durchsetzungsinitiative stellt sich selbst aber über die EMRK oder etwa die Kinderrechtskonvention. Sie würde damit eine ähnliche Wirkung entfalten wie die Initiative über «fremde Richter», deren Ziele sie damit in diesem Sinne vorwegnimmt. Was wären die Folgen für die Schweiz, wenn sie Entscheide des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs nicht mehr umsetzt, weil die Bundesverfassung es ihr explizit verbietet? Das ist schwer vorauszusagen, aber der Konflikt mit dem Europarat wäre vorprogrammiert. Es handelt sich immerhin um Verträge, deren Ratifizierung durch das Parlament in den letzten Jahrzehnten gutgeheissen wurde!
c) Die Durchsetzungsinitiative ist diskriminierend
- Das in unserer Verfassung verankerte Diskriminierungsverbot würde mit der Initiative missachtet, denn auch wenn zwei Menschen genau derselben Straftat für schuldig befunden würden, hätte dies für eine Schweizer Bürgerin oder einen Schweizer Bürger andere Folgen als für einen Ausländer bzw. eine Ausländerin. Letztere würden in gewisser Weise doppelt bestraft, denn nebst einer Haftstrafe würden sie auch noch des Landes verwiesen, ohne dagegen irgendetwas tun zu können.
- Das vom Parlament verabschiedete Umsetzungsgesetz zur Ausschaffungsinitiative sieht eine Schutzklausel für Härtefälle vor. Einer solchen Schutzklausel will die Durchsetzungsinitiative entgegenwirken, wie die SVP offen zugibt. Die Schutzklausel würde in den allermeisten Fällen nur auf gut in der Schweiz etablierte Personen angewendet, insbesondere auf die zweite Generation von Einwanderern (sogenannte «Secondos»). Durch die Ablehnung einer solchen Schutzklausel wirkt sich die Initiative noch unverhältnismässiger auf Menschen aus, die zwar eine geringfügige Straftat begangen haben, jedoch gut in der Schweiz integriert sind.
- Dazu kommt, dass die Initiative nichts an der Tatsache ändern würde, dass bestimmte straffällig gewordene Ausländerinnen und Ausländer – etwa solche, die in Drogengeschäfte involviert sind – so oder so nicht ausgeschafft werden könnten, da sie aus Ländern kommen, mit denen die Schweiz keine Rückübernahmeabkommen hat. Wer glaubt, mit der Initiative unseren Behörden ein zusätzliches Instrument für die Bekämpfung von Kriminalität in die Hände zu geben, wiegt sich in gefährlichen Illusionen.
- Die Durchsetzungsinitiative hätte zudem auch indirekte Auswirkungen auf Schweizer Bürgerinnen und Bürger, nämlich auf jene, die mit einer direkt von der Ausschaffung betroffenen Person in einem gemeinsamen Haushalt leben (Ehe, eingetragene Partnerschaft, dauerhaftes Konkubinat). Das durch Art. 13 der Bundesverfassung garantierte Recht auf Familienleben würde dadurch möglicherweise gravierend verletzt.
d) Weitere Argumente
Nebst den angeführten menschenrechtsrelevanten Aspekten sprechen auch Argumente aus eher ökonomischer und politischer Sicht gegen die Initiative. Hier die wichtigsten in Kürze:
- Wenn Personen, die ausgeschafft werden sollten, nicht ausgeschafft werden können, etwa weil mit dem Herkunftsland kein Rückübernahmeabkommen besteht, sässen noch mehr Menschen im Gefängnis oder müssten anschliessend auf Nothilfe gesetzt werden, weil sie nicht arbeiten dürfen. Das würde die Sozialausgaben weiter in die Höhe treiben.
- Die Personenfreizügigkeitsabkommen mit der Europäischen Union sehen die Möglichkeit einer Ausschaffung straffälliger Personen nur dann vor, wenn die Person in schwerwiegender Weise die Sicherheit oder die öffentliche Ordnung gefährdet. Der Katalog der Straftaten in der Initiative ist dem gegenüber viel breiter. Konflikte im Zusammenhang mit Ausschaffungsfällen, die den bilateralen Abkommen mit der EU widersprächen, wären damit vorprogrammiert. Der Vorrang des Schweizer Rechts gegenüber der EMRK, vor allem aber gegenüber den «Bilateralen», wäre ein weiterer Faktor, der die Schweiz als Handelspartnerin und Wirtschaftsstandort instabil erscheinen lässt.
- Personen, die man nicht ausschaffen kann, die aber auch nicht arbeiten dürften, würden die öffentliche Sicherheit wohl eher gefährden denn stärken.