Keine Massnahme zur Frauenbefreiung
Ein Burkaverbot in der Schweiz ist keine Massnahme zur Frauenbefreiung, wie dies die Initianten glauben machen möchten. Erstens ist das Problem angesichts der verschwindend kleinen Zahl von Burkaträgerinnen weitgehend konstruiert. Gemäss einer Studie von Andreas Tunger-Zanetti, Leiter des Zentrums für Religionsforschung an der Universität Luzern, tragen nur 20 bis 30 Frauen in der Schweiz eine Burka oder einen Nikab. Dazu kommen gelegentlich einige Touristinnen aus den Golfstaaten. Die betroffenen Frauen, die auch in der Schweiz wohnen, sind zumeist in der Schweiz geboren und für viele unter ihnen zum Islam konvertiert. Das Verhüllen des Körpers ist in den allermeisten Fällen ein persönlicher Entscheid. Ein generelles Burka-Verbot stellt eine Verletzung der Meinungs- und Religionsfreiheit dieser Frauen dar. Für die kleine Minderheit von Frauen, die von ihren Männern oder Gemeinschaften zum Tragen der Burka gezwungen werden, ist ein Burka-Verbot keine Hilfe. Im Gegenteil: Sie würden durch ein Verbot eher noch mehr ausgegrenzt und isoliert, als sie dies möglicherweise schon sind.
Frauendiskriminierung muss anders überwunden werden
Die Diskriminierung von ausländischen Frauen ist in der Schweiz allerdings ein anhaltendes Problem. Ausländische Frauen werden aus Gleichstellungs- und Schutzmassnahmen häufig bewusst oder unbewusst ausgeschlossen, etwa im Asylbereich, im Bereich des Opferschutzes und im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt. Ein Burkaverbot löst aber kein einziges dieser Probleme. Vielmehr braucht es gezielte Massnahmen im Bereich der Asyl- und Ausländerbehörden, der Polizei und der Justiz, des Gesundheits- und Sozialwesens, damit auch ausländische Frauen als Subjekte von Menschenrechten ernst genommen werden, ihre eigenen Bedürfnisse formulieren und sich gegen Verletzungen ihrer psychischen und körperlichen Identität selbst wehren können.
Nicht durch übergeordnetes öffentliches Interesse gerechtfertigt
Ein Verbot, in der Öffentlichkeit mittels eines bestimmten Kleidungsstücks einer religiösen Überzeugung Ausdruck zu geben, läuft dem Menschenrecht auf freie Meinungsäusserung zuwider. Die Einschränkung dieses Grundrechts, das auch in der Bundesverfassung verankert ist, müsste durch ein übergeordnetes öffentliches Interesse gerechtfertigt werden können und verhältnismässig sein. Die Verhältnismässigkeit ist rein aus zahlenmässigen Gründen nicht gegeben. Was das öffentliche Interesse angeht, hat der EGMR in einem Urteil zu Frankreich festgestellt, dass weder die (vermeintlich damit zu erreichende) öffentliche Sicherheit noch die (vermeintliche damit zu erreichende) Geschlechtergleichstellung hinreichende Gründe für ein Vollverschleierungsverbot seien.
Kein Beitrag zu einem friedlicheren gesellschaftlichen Zusammenleben
Die Initianten berufen sich hingegen auf die Argumentation des EGMR, wonach das gesellschaftliche Zusammenleben durch das Tragen von Vollverschleierungen beeinträchtigt werden könnte. Das rechtfertige eine Einschränkung des Grundrechts auf freie Meinungsäusserung. Was sie – abgesehen von der geringen Vergleichbarkeit der Umstände - verschweigen: Der EGMR warnte bei der Veröffentlichung dieses Urteils auch vor den Auswirkungen solcher Verbote auf den öffentlichen Diskurs. Er hielt fest, eine solche Massnahme berge das Risiko, Stereotype über bestimmte Bevölkerungsgruppen zu zementieren und Intoleranz zu verstärken, statt Toleranz zu fördern.
Tatsächlich hat die vom selben Egerkinger Komitee lancierte Minarettinitiative genau dies gezeigt: In der Schweiz wird das Zusammenleben durch solche Initiativen nicht gefördert, sondern beschädigt. Die gut integrierte und keineswegs radikale Mehrheit der Musliminnen und Muslime in der Schweiz empfindet Verbote religiöser Symbole eher als Ablehnung gegenüber ihren Gemeinschaften und ihrer Religion denn als Massnahme zur Förderung der Integration. Damit werden Konflikte nicht beseitigt, sondern im Gegenteil geschürt.
Aus allen diesen Gründen empfiehlt Amnesty International die Initiative "für ein Verhüllungsverbot" zur Abhlehnung am 7. März 2021.