Worum geht es?
Das Parlament hat beschlossen, dass Versicherungsdetektive künftig IV-BezügerInnen, Arbeitslosen-, Kranken- sowie Unfallversicherte bei Verdacht auf Missbrauch observieren dürfen - selbst auf dem eigenen Balkon oder im Schlafzimmer, wenn diese von einem frei zugänglichen Ort einsehbar sind. Eine Genehmigung der Staatsanwaltschaft oder eines Gerichts brauchen die Versicherer dafür nicht. Eine solche benötigen sie nur, wenn sie die Betroffenen zusätzlich mittels GPS-Trackern oder Drohnen überwachen wollen. Damit würden Versicherungsdetektive weiter gehende Vollmachten erhalten als Polizei und Strafverfolgungsbehörden, die etwa zu einem Raub oder Mord ermitteln. Dies ist offensichtlich unverhältnismässig. Ein solcher Eingriff in das Recht auf den Schutz der Privatsphäre kann jede/-n treffen und geht eindeutig zu weit. Sozialversicherungsbetrug kann mit dem geltenden Strafrecht und unter Achtung rechtsstaatlicher Grundsätze hinreichend wirksam bekämpft werden.
Wie kam es zum Referendum?
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte in einem Urteil vom Herbst 2016 bemängelt, dass in der Schweiz eine genügende gesetzliche Grundlage für die Überwachung von Sozialversicherten (IV, SUVA, ALV, Grundversicherung Krankenkasse) fehle. Daraufhin passte auch das Bundesgericht seine Rechtsprechung an, und die Versicherer (namentlich Unfall- und Invalidenversicherer) mussten die Observation mutmasslicher Versicherungsbetrüger einstellen. Die Versicherungslobbyisten haben daraufhin mit Hilfe einer Parlamentarischen Initiative der ständerätlichen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit im Eilverfahren einen neuen Observationsartikel im Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) durch die Räte gepeitscht. Ein privates Komittee um die Schriftstellerin Sibylle Berg, den Studenten Dimitri Rougy und den Kampagnenspezialisten Daniel Graf haben dagegen erfolgreich das Referendum ergriffen. Neben Behindertenverbänden, Gewerkschaften, humanrights.ch und vielen anderen hatte auch Amnesty bereits diese Unterschriftensammlung unterstützt.
Warum engagiert sich Amnesty zum Thema Versicherungsspione?
Das Recht auf Privatsphäre ist ein wichtiges Menschenrecht, das sowohl in der Bundesverfassung als auch in wichtigsten internationalen Konventionen zum Schutz der Menschenrechte verankert ist (EMRK, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Internationaler Pakt über politische und zivile Rechte; Details s. hier). Eingriffe in derartige Grundrechte müssen verhältnismässig sein. Dies ist vorliegend nicht der Fall, wenn Versicherungen in eigenem Ermessen und ohne richterliche Genehmigung weit gehende Observationen selbst in Privaträumen tätigen können.
Will Amnesty SozialversicherungsbetrügerInnen schützen?
Nein, Amnesty ist für eine wirksame Bekämpfung von Sozialversicherungsbetrug - dies aber im Rahmen rechtsstaatlicher Prinzipien und unter Achtung der Grundrechte. Der «unrechtmässige Bezug von Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe» ist bereits ein Straftatbestand (Art 148a Strafgesetzbuch). Die Observation Tatverdächtiger ist in der Strafprozessordnung geregelt: Selbst im öffentlichen Raum ist bei längerer Observation eine Genehmigung der Staatsanwaltschaft nötig, und die Überwachung in privaten Räumen bedarf sogar einer richterlichen Genehmigung. Es besteht kein Grund, bei Verdacht auf Sozialversicherungsbetrug die rechtsstaatlichen Grundsätze über Bord zu werfen und weiter zu gehen als bei anderen Straftatbeständen und sogar als bei schweren Delikten wie Mord und Raub. Hinzu kommt: bei Verdacht auf Sozialversicherungsbetrug observieren nicht wie sonst Staatsanwaltschaft und Polizei, sondern nach eigenem Gutdünken ausgerechnet jene mit dem grössten Eigeninteresse - die Versicherungen selbst. Dies geht in Richtung Selbstjustiz und ist im Hinblick auf mögliche Verletzungen der Grundrechte inakzeptabel.
Wie kann ich mich für das Referendum einsetzen?
1 Million Gespräche, um Menschen dafür zu gewinnen, NEIN zu stimmen: Das Referendumskomittee «Versicherungsspione Nein» sucht in einer ersten Mobilisierungsphase vor der Abstimmung am 25. November möglichst viele Menschen, die Gespräche führen mit dem Ziel, Menschen von der Wichtigkeit eines Neins zu überzeugen – für die Grundrechte von uns allen. Zum Anmeldeformular