Am Montag, 10. Mai schliesst die Vernehmlassung zum Vorentwurf für ein «Bundesgesetz für eine Revision des Sexualstrafrechts». Amnesty International begrüsst die Bereitschaft des Parlaments, das Sexualstrafrecht dahingehend zu reformieren, dass nicht-einvernehmliche sexuelle Handlungen angemessen bestraft und Betroffene so besser vor sexueller Gewalt geschützt werden können. Ausdrücklich unterstützt die Menschenrechtsorganisation den neuen Gliederungstitel (Angriffe auf sexuelle Freiheit) und die Ausweitung des Vergewaltigungstatbestandes auf weitere Formen von Penetration sowie auf Opfer nicht-weiblichen Geschlechts (Variante 2, Absatz 1).
Allerdings ist Amnesty International der Ansicht, dass die vorgeschlagenen Definitionen von Vergewaltigung (Art. 190) und sexueller Nötigung (Art. 189) in beiden Varianten weiterhin nicht den Anforderungen der internationalen Menschenrechtsnormen wie der Istanbul-Konvention genügen. Diese verlangen, dass die Definition von Vergewaltigung auf dem Fehlen der Zustimmung basiert und nicht auf Zwang oder Nötigung.
«Die Istanbul-Konvention feiert dieser Tage bereits ihr zehnjähriges Bestehen. Es ist höchste Zeit, dass die Schweiz deren Bestimmungen umsetzt und eine zeitgemässe Revision des Sexualstrafrechts an die Hand nimmt», sagt Cyrielle Huguenot, Verantwortliche für Frauenrechte bei Amnesty International.
Risiken eines separaten Tatbestands «sexueller Übergriff»
Während zwölf europäische Länder nicht-einvernehmlichen Geschlechtsverkehr bereits als Vergewaltigung anerkennen, schlägt der vorliegende Gesetzesentwurf vor, einen neuen Straftatbestand «sexueller Übergriff» zu schaffen, der sexuelle Handlungen gegen den Willen einer Person oder durch Überraschung erfassen soll (neu Art. 187a StGB).
Indem dieser Gesetzesentwurf nicht-einvernehmliche vaginale, anale und orale Penetrationen als «sexuellen Übergriff» charakterisiert, wird eine Art «unechte Vergewaltigung» geschaffen, die mit einer geringeren Strafe geahndet wird. Art. 187a erweckt den Anschein, als wären nicht-einvernehmliche sexuelle Handlungen ohne Nötigungsmittel per se weniger gravierend.
Wehrverhalten des Opfers wird zu viel Gewicht beigemessen
Ein weiteres Grundproblem bleibt bestehen: Wenn ein Opfer nicht fähig ist, sich zu wehren, muss die Täterschaft gar keine Gewalt anwenden. Es bleibt also indirekt am Wehrverhalten des Opfers hängen, ob es sich um eine Vergewaltigung (Art. 190) oder einen sexuellen Übergriff (neu Art. 187a) handelt. Auch die Ausgestaltung als Vergehen statt als Verbrechen und das deutlich höhere Strafmass bei Art. 190 impliziert, dass der grösste Teil des Unrechts auf die Nötigungshandlung entfällt.
«In vielen Fällen, in denen das Opfer gegen seinen Willen anal, vaginal oder oral penetriert wurde, musste die Täterschaft keine physische Gewalt anwenden. Ein ‚sexueller Übergriff‘, der nur als Vergehen geahndet wird, verkennt die Schwere der Tat und ihre oft langfristigen Folgen. Diese sind aber in manchen Fällen genauso schwerwiegend wie nach einer Nötigungshandlung», sagt Cyrielle Huguenot.
Erfahrungen in anderen Ländern spricht gegen «two crime model»
Nicht zu unterschätzen ist zudem das Risiko, dass Fälle, bei denen das Nötigungsmittel nicht offenkundig vorliegt, statt unter Art. 190/189 künftig unter den neuen Straftatbestand von Art. 187a fallen.
Dieses «two crime model» wurde in mehreren europäischen Ländern bereits kritisch beurteilt. Nach der Einführung eines solchen weniger schweren Straftatbestands waren beispielsweise in Kroatien vermehrt Vergewaltigungen in der Ehe darunter erfasst worden. Im neuen Strafgesetz (seit Januar 2020 in Kraft) ist in dem Land der Grundtatbestand nun endlich bei der Vergewaltigung integriert. Auch in Spanien und in den Niederlanden sind ähnliche Diskussionen im Gang.
Im Gegensatz zu den in der Gesellschaft immer noch verbreiteten Mythen, dass Vergewaltigungen meist von Fremden begangen werden und in einer «dunklen Gasse» stattfinden, ereignet sich der grösste Teil der Übergriffe in Wirklichkeit im privaten Rahmen. Eine natürliche Reaktion der Betroffenen ist ein Schock- oder Lähmungszustand, der als «Freezing» bezeichnet wird. Nur in seltenen Fällen leisten die Opfer körperlichen Widerstand. Die Täterschaft muss oft gar keine Gewalt anwenden, weil sie den Stress- oder Schockzustand des Opfers und das Vertrauensverhältnis ausnutzt.
«Nein-heisst-Nein» schützt die sexuelle Selbstbestimmung nicht ausreichend
Mit der Formulierung «gegen den Willen einer Person» wurde im Entwurf ein «Nein-heisst-Nein»-Ansatz gewählt. Damit soll das Gesetz die Botschaft vermitteln, dass das «Nein» der anderen Person während einer sexuellen Handlung nicht übergangen werden darf. Mit einer solchen Formulierung verpasst der Gesetzgeber allerdings die Chance, klar festzuhalten, dass es sozial wünschenswert ist, sich bei sexuellen Kontakten stets der Einwilligung des Gegenübers zu vergewissern.
Das Problem bei der Formulierung «gegen den Willen einer Person», wie sie für Art. 187a gewählt wurde, ist zudem, dass sie eine Pflicht des Opfers impliziert, sich mindestens verbal zu wehren. Ein «Nein-heisst-Nein»-Ansatz suggeriert, dass Menschen Geschlechtsverkehr stets zustimmen, es sei denn, sie machen eine gegenteilige Aussage. Damit wird man einer Situation, in der das Opfer nicht in der Lage ist, sich zu wehren, nicht gerecht. Dies ist insbesondere der Fall, wenn das Opfer erstarrt (sog. «Freezing») und die fehlende Einwilligung nicht auszudrücken kann.
Sex ohne Zustimmung ist Vergewaltigung
«Ein ‘Ja-heisst-Ja’-Ansatz hingegen würde betonen, dass Sexualität kein Gut ist, das genutzt werden kann, solange niemand etwas dagegen hat, sondern, dass zunächst eine Einwilligung der anderen Person erforderlich ist», sagt Cyrielle Huguenot. «Der Gesetzgeber hat jetzt die Gelegenheit, ein modernes Sexualstrafrecht zu schaffen, welches unmissverständlich klarstellt, dass das grundsätzliche Unrecht nicht in der Nötigung oder der Gewalt liegt, sondern in der Missachtung der sexuellen Selbstbestimmung».
Um wirklich Gerechtigkeit für die Opfer sexueller Gewalt zu schaffen, fordert Amnesty International das Schweizer Parlament auf, den Gesetzesentwurf zu korrigieren und alle Formen des nicht-einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs als Vergewaltigung zu definieren. Die Straftatbestände Art. 189 (sexuelle Nötigung) und Art. 190 (Vergewaltigung) sollten entsprechend angepasst werden.