Seit der Friedensprozess zwischen der türkischen Regierung und der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) im Juli 2015 für beendet erklärt worden ist, führen die türkischen Polizeiorgane und zunehmend auch die Armee umfassende Operationen gegen die Patriotische Revolutionäre Jugendbewegung (YDG-H) durch, den bewaffneten Jugendflügel der PKK. Dabei werden anhaltende, teils wochenlange Ausgangssperren über ganze Städte und Stadtviertel im Südosten der Türkei verhängt. Im Kurzbericht «End Abusive operations under indefinite curfews» fordert Amnesty International die türkische Regierung auf, die unbeschränkten Ausgangssperren zu beenden.
Im Zuge der Operationen der türkischen Sicherheitskräfte sind in den von Ausgangssperren betroffenen Orten gemäss vorliegenden Berichten bisher mindestens 150 Menschen ums Leben gekommen, darunter Frauen, Kinder und Betagte. Bereits im September 2015 hatte Amnesty International in Cizre Untersuchungen durchgeführt und dabei Hinweise darauf gefunden, dass mehrere Tote auf das Konto von Scharfschützen gingen an Orten, die nicht von bewaffneten Auseinandersetzungen betroffen waren.
20 Tage ohne Trinkwasserversorgung
In Zusammenhang mit der jüngsten Eskalation war Amnesty erneut vor Ort in von Ausgangssperren betroffenen Gebieten und hat zudem Aussagen von Bewohnerinnen und Bewohnern aus Städten ausgewertet, die für internationale Beobachter nicht zugänglich sind. Berichte aus Silopi etwa zeugen davon, dass manche Haushalte dort im letzten Monat 20 Tage ohne Wasser und 15 Tage ohne Strom auskommen mussten. Ein Bewohner berichtete, dass eine Familie 12 Tage warten musste, bis die Sanität den verwesten Leichnam eines durch die Kämpfe getöteten Familienmitglieds abholen konnte. Dies deckt sich mit Berichten aus verschiedenen Orten unter Ausgangssperre, wonach die Sicherheitsorgane Ambulanzen den Zugang zu Kranken und Verletzten verwehrten. In einigen Orten bzw. Stadtvierteln dauern die umfassenden Ausgangssperren seit mehr als einem Monat an. Die Einwohnerinnen und Einwohner sehen sich eigentlichen militärischen Belagerungen ausgesetzt. Dabei werden in dicht besiedelten Wohngebieten schwere Waffen und Scharfschützen eingesetzt, was die Zivilbevölkerung grossen Risiken aussetzt.
PKK-Anschlag mit zivilen Opfern
Am 13. Januar 2016 forderte eine von der PKK vor dem Polizeiquartier in Cinar platzierte Autobombe sechs Todesopfer, darunter fünf Zivilpersonen, sowie 39 Verletzte. Ein solcher Anschlag ist ein Verstoss gegen das Gebot, zwischen militärischen und zivilen Zielen zu unterscheiden.
Ebenso ist die türkische Regierung bei ihren Massnahmen zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit an ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen gebunden. Die gegenwärtigen Operationen setzen jedoch Zehntausende von Zivilpersonen immer massiveren Härten und Risiken aus. Zunehmend muss von einer kollektiven Bestrafung der Zivilbevölkerung gesprochen werden.
Kritik unerwünscht
Die türkischen Behörden haben zudem Vertreterinnen und Vertretern von Anwaltsverbänden und Menschenrechtsorganisationen den Zugang zu Orten unter Ausgangssperre verwehrt, was es schwierig macht, ein genaues Bild der Lage zu erhalten. Wer die Menschenrechtsverletzungen kritisierte, wurde zudem zur Zielscheibe von Drohungen und strafrechtlicher Verfolgung. Beispiele dafür sind die Verhaftung von Akademikern, die eine Petition für ein Ende der Militäroperationen unterzeichnet hatten, oder der Fall der TV-Sendung «Beyaz Show»: Nachdem ein Anrufer in der Sendung an die toten Frauen und Kinder im Südosten der Türkei erinnerte, wurde gegen den Talkmaster Anklage wegen «Propaganda für eine terroristische Organisation» erhoben.
Während in der Türkei das Recht auf freie Meinungsäusserung immer stärker eingeschränkt wird, ist die türkische Regierung von Kritik an ihrem Vorgehen seitens ihrer europäischen Partner weitgehend verschont geblieben. Strategische Überlegungen mit Bezug auf den Konflikt in Syrien und die Flüchtlingskrise dürfen jedoch nicht den Blick verstellen auf grobe Menschenrechtsverletzungen in der Türkei.