Investigation Into Russian Air Strikes on the Mariupol Theatre Investigation Into Russian Air Strikes on the Mariupol Theatre

Ukraine Angriff auf Theater in Mariupol ist Kriegsverbrechen russischer Truppen

Medienmitteilung 29. Juni 2022, London/Bern – Medienkontakt
Die Bombardierung des Theaters von Mariupol war ein klares Kriegsverbrechen. Zu diesem Schluss kommt Amnesty International nach einer umfangreichen Untersuchung des Angriffs vom März 2022. Die russischen Streitkräfte nahmen das Theater allem Anschein nach gezielt ins Visier, obwohl dort Hunderte von Zivilpersonen Schutz gesucht hatten.

Der neue Amnesty-Bericht mit dem Titel « 'Children’: The Attack on the Donetsk Regional Academic Drama Theatre in Mariupol, Ukraine» dokumentiert umfassend, wie das russische Militär das Theater in Mariupol am 16. März angriff.  Ein Recherche-Team von Amnesty International sprach mit Dutzenden Überlebenden und analysierte umfangreiches digitales Datenmaterial. Die Analyse zeigt, dass höchstwahrscheinlich zwei 500-Kilo-Fliegerbomben von einem russischen Kampfjet auf das Theater abgeworfen wurden und dort fast zeitgleich explodierten.

«Wir kommen zum Schluss, dass es sich bei dem Angriff um ein klares Kriegsverbrechen seitens der russischen Truppen handelt.» Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International

«Nachdem wir monatelang gründlich recherchiert, Satellitenaufnahmen ausgewertet und mit Dutzenden Zeug*innen gesprochen haben, kommen wir zum Schluss, dass es sich bei dem Angriff um ein klares Kriegsverbrechen seitens der russischen Truppen handelt», so Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International.

«Bei diesem grausamen Militärschlag wurden zahlreiche Menschen verletzt und getötet. Allem Anschein nach nahmen die russischen Streitkräfte Zivilist*innen gezielt ins Visier. Der Internationale Strafgerichtshof und weitere Gerichte, die Verbrechen dieses Konflikts verfolgen, müssen diesen Angriff als ein Kriegsverbrechen behandeln und entsprechend untersuchen. Alle Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden.»

Gezielter Luftschlag auf Zufluchtsort für Geflüchtete

Amnesty International beauftragte eine Physikerin mit der Anfertigung eines mathematischen Modells der Explosion, um festzustellen, welches Netto-Explosivstoffgewicht nötig ist, um das verursachte Ausmass an Zerstörung herbeizuführen. Ihre Analysen ergaben, dass die Bomben ein Netto-Explosivstoffgewicht von 400-800 kg aufwiesen. Ausgehend von vorliegenden Nachweisen über Fliegerbomben in russischem Besitz handelte es sich höchstwahrscheinlich um zwei 500-Kilo-Bomben desselben Modells.

Beim eingesetzten Flugzeug dürfte es sich um einen Multirollen-Kampfjet (etwa vom Typ Su-25, Su-30 oder Su-34) handeln. Diese Kampfflugzeuge waren auf einem nahegelegenen russischen Luftlandeplatz stationiert und häufig über der südlichen Ukraine im Einsatz.

Im Zuge des russischen Einmarsches in der Ukraine gegen Ende Februar 2022 flohen immer mehr Zivilpersonen aus ihren Häusern und Wohnungen, da Städte und Dörfer zum Ziel militärischer Angriffe wurden. In der belagerten Start Mariupol in der Region Donezk wurde das Theater zu einem Zufluchtsort für die Zivilbevölkerung.

Gebäude deutlich als ziviles Objekt erkennbar

Das Theater im Stadtteil Tsentralnyi wurde zu einem Umschlagplatz für die Verteilung von Medikamenten, Lebensmitteln und Trinkwasser und zu einem Treffpunkt für Menschen, die auf eine Evakuierung mittels humanitärer Korridore hofften. Mehr als jedes andere Gebäude in der Stadt war das Theater eindeutig als ziviles Objekt erkennbar.

Die Bewohner*innen der Stadt hatten in riesigen Buchstaben das kyrillische Wort „Дети“ – russisch für «Kinder» – rechts und links auf den Hof neben das Gebäude geschrieben.

Die Bewohner*innen der Stadt hatten zudem in riesigen Buchstaben das kyrillische Wort „Дети“ – russisch für «Kinder» – rechts und links auf den Hof neben das Gebäude geschrieben. Dies sollte für die russischen Pilot*innen und auch auf Satellitenaufnahmen deutlich zu sehen gewesen sein.

Dennoch wurde das Theater am 16. März kurz nach 10 Uhr morgens von russischen Bomben getroffen. Die darauffolgende Explosion brachte das Dach und grosse Teile zweier tragender Wände zum Einsturz. Zum Zeitpunkt des Angriffs befanden sich Hunderte Zivilpersonen entweder im Theater oder in unmittelbarer Nähe.

Amnesty International ist überzeugt, dass mindestens zwölf Menschen durch den Angriff getötet und viele weitere schwer verletzt wurden. Diese Schätzung liegt niedriger als vorherige Schätzungen, da sie der Tatsache Rechnung trägt, dass sehr viele Menschen das Theater in den zwei Tagen vor dem Angriff verlassen hatten und die meisten verbleibenden Personen im Keller des Theaters oder in anderen Teilen des Gebäudes Zuflucht suchten, die nicht von der vollen Wucht der Explosion getroffen wurden.

Der zivile Charakter des Theaters und die Anwesenheit zahlreicher Zivilpersonen war in den Wochen vor dem Militärschlag offensichtlich. Die Art des Angriffs – die bombardierten Teile des Gebäudes sowie die wahrscheinlich verwendeten Waffen – und das Fehlen eines potenziell legitimen militärischen Ziels in der Nähe deuten stark darauf hin, dass das Theater das beabsichtigte Ziel war. Infolgedessen stellt der Angriff aller Wahrscheinlichkeit nach ein vorsätzlicher Angriff auf ein ziviles Objekt dar und ist daher ein Kriegsverbrechen.

Methodik

Zwischen dem 16. März und dem 21. Juni sammelte und analysierte Amnesty International Beweise zum Angriff auf das Theater. Dazu gehörten 52 Aussagen von Überlebenden und Zeug*innen des Militärschlags und seiner Folgen. 28 Befragte befanden sich zum Zeitpunkt des Anschlags im oder in der Nähe des Theaters. Amnesty International analysierte zudem Satellitenbilder und Radardaten von unmittelbar vor und kurz nach dem Angriff sowie authentisches Foto- und Videomaterial, das von Überlebenden und Zeug*innen zur Verfügung gestellt wurde sowie zwei separate Baupläne des Theaters.

Zusätzlich führte das Crisis Evidence Lab der Organisation eine Open-Source-Recherche durch und untersuchte und verifizierte 46 Fotos und Videos des Militärschlags aus den Sozialen Medien sowie weitere 143 Fotos und Videos, die mit Expert*innen von Amnesty geteilt wurden.