© Amnesty International
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Ukraine Zwangsumsiedlung von Zivilpersonen durch Russland

Medienmitteilung 10. November 2022, London/Bern – Medienkontakt
Russische Streitkräfte haben mit Gewalt Zivilpersonen aus der Ukraine nach Russland und in von Russland besetzte Gebiete verschleppt. Dabei handelt es sich um Kriegsverbrechen und vermutlich auch um Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Zu diesen Ergebnissen kommt Amnesty International in einem neuen Bericht.

Der Bericht «Like a Prison Convoy: Russia’s Unlawful Transfer of Civilians in Ukraine and Abuses During ‘Filtration’» zeigt, wie russische bzw. von Russland kontrollierte Truppen in den vergangenen Monaten Zivilpersonen aus besetzten Gebieten in der Ukraine verschleppten: Diese wurden nach Russland oder weiter ins Innere der russisch kontrollierten Gebiete gebracht.

Kinder wurden unter Verstoss gegen humanitäres Völkerrecht von ihren Familien getrennt. Zivilpersonen wurden gezwungen, sich einem Überprüfungsprozess, bekannt als «Filtration», zu unterziehen. Dabei wurden sie in einigen Fällen willkürlichen Festnahmen sowie Folter und anderer Misshandlung ausgesetzt.

«Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine – an sich bereits ein völkerrechtliches Verbrechen – haben die russischen Truppen unterschiedslos Zivilpersonen angegriffen und getötet, unzählige Leben zerstört und Familien auseinandergerissen. Die russische Taktik der Zwangsumsiedlung und Verschleppung stellt ein Kriegsverbrechen dar und Amnesty International ist der Ansicht, dass dies überdies als Verbrechen gegen die Menschlichkeit untersucht werden muss», sagte Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International.

«Alle Personen, die zwangsweise umgesiedelt wurden und nach wie vor rechtswidrig festgehalten werden, müssen die Möglichkeit erhalten, ihren derzeitigen Aufenthaltsort wieder zu verlassen. Alle, die für diese Verbrechen verantwortlich sind, müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Minderjährige, die sich unter russischer Aufsicht befinden, müssen wieder mit ihren Familien zusammengeführt werden, und es muss ihnen die Rückkehr in von der Ukraine kontrollierte Gebiete ermöglicht werden», forderte Agnès Callamard.

Für den Bericht hat Amnesty International 88 Zivilpersonen aus der Ukraine interviewt. Bei den meisten handelt es sich um Zivilpersonen aus Mariupol oder aus den Regionen Charkiw, Luhansk, Cherson und Saporischschja. Die meisten Menschen, insbesondere diejenigen aus Mariupol, beschrieben Zwangssituationen, in denen sie faktisch keine andere Wahl hatten, als nach Russland oder in andere russisch besetzte Gebiete zu gehen.

Das humanitäre Völkerrecht verbietet Einzel- oder Massenzwangsverschickungen von Zivilpersonen aus besetzten Gebieten.

Nachdem Russland Mariupol besetzte, hinderten russische oder von Russland kontrollierte Kräfte in vielen Fällen die Zivilbevölkerung daran, in die von der ukrainischen Regierung gehaltenen Gebiete zu fliehen. Zahlreiche Menschen gaben an, dass sie sich genötigt fühlten, «Evakuierungsbusse» in die sogenannte Volksrepublik Donezk zu besteigen. Das humanitäre Völkerrecht verbietet Einzel- oder Massenzwangsverschickungen von Zivilpersonen aus besetzten Gebieten.

Zwangsumsiedlungen von Kindern und anderen gefährdeten Gruppen

Amnesty International dokumentierte mehrere Fälle, in denen unbegleitete Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderung von Mariupol nach Donezk verschleppt wurden. In mehreren Fällen wurden Kinder, die ohne ihre Eltern oder ihren Vormund in Richtung ukrainisch kontrollierter Gebiete flohen, an russischen Militärkontrollpunkten angehalten und unter die Aufsicht der russisch kontrollierten Behörden in Donezk gestellt.

Der Amnesty-Bericht enthält auch Informationen darüber, wie alle 92 Bewohner*innen einer staatlichen Einrichtung für ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen in Mariupol zwangsweise nach Donezk umgesiedelt wurden. Angaben ukrainischer Behörden zufolge befinden sich die Personen weiterhin in Donezk. Amnesty International dokumentierte mehrere Fälle, in denen ältere Menschen aus der Ukraine offenbar nach der Flucht aus ihren Heimatorten in Einrichtungen in Russland oder russisch besetzten Gebieten gebracht wurden. Diese Praxis verstösst gegen die Rechte der Betroffenen und erschwert ihnen, Russland zu verlassen bzw. in der Ukraine oder an anderen Orten mit ihrer Familie zusammengeführt zu werden.

Mehrere Personen gaben an, dass sie sich unter Druck gesetzt fühlten, die russische Staatsangehörigkeit zu beantragen, sobald sie sich in Russland befanden, oder berichteten, dass ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt wurde. Für Kinder, die entweder als Waisen galten oder ohne elterliche Fürsorge waren, sowie für manche Menschen mit Behinderung wurde das Verfahren zum Erwerb der russischen Staatsangehörigkeit vereinfacht. Damit sollte die Adoption dieser Kinder durch russische Familien erleichtert werden, was gegen Völkerrecht verstösst.

Diese Handlungen deuten darauf hin, dass die Verschleppungen von Zivilpersonen – einschliesslich Kindern – systematisch erfolgen und Teil eines umfassenden Angriffs auf die ukrainische Zivilbevölkerung sind. Dies legt nahe, dass Russland nicht nur das Kriegsverbrechen der rechtswidrigen Vertreibung oder Überführung begangen hat, sondern vermutlich auch das Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Vertreibung oder zwangsweise Überführung der Bevölkerung – beide Verbrechen sind Teil des Römer Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs.

Erniedrigende Überprüfungsverfahren, Festnahmen und Folter

Zivilpersonen aus der Ukraine, die nach Russland oder in von Russland besetzte Gebiete geflohen sind oder verschleppt wurden, mussten routinemässig ein erniedrigendes Überprüfungsverfahren durchlaufen, sobald sie in die sogenannte Volksrepublik Donezk oder nach Russland einreisten oder aus Russland in ein Drittland ausreisten. Bei diesem als «Filtration» bekannten Prozess wurde in vielen Fällen das Recht dieser Menschen auf Privatsphäre und körperliche Unversehrtheit verletzt.

An den sogenannten «Filtrations»-Checkpoints wurden von den Menschen Fotos gemacht, man nahm ihre Fingerabdrücke, durchsuchte die Handys und befragte sie lang und ausgiebig. So mussten sie zum Beispiel zu ihren politischen Ansichten und ihrer Meinung zum Krieg Auskunft geben. Männer wurden in der Regel gezwungen, den Oberkörper zu entkleiden, um sie auf Tätowierungen, Blutergüsse oder andere Anzeichen für eine frühere Zugehörigkeit zu ukrainischen Sicherheitskräften zu untersuchen.

Im Kontext der «Filtrationen» kam es auch zu willkürlichen Festnahmen und Zivilpersonen wurden teils über längere Zeit festgehalten. Menschen, die während des «Filtrationsprozesses» festgenommen wurden, gaben Amnesty International gegenüber an, gefoltert und anderweitig misshandelt worden zu sein, unter anderem mit Schlägen, Elektroschocks und Hinrichtungsdrohungen. Sie berichteten, weder Nahrung noch Wasser erhalten zu haben und in überfüllten Einrichtungen festgehalten worden zu sein. Amnesty International hat zudem mehrere Fälle dokumentiert, die laut Menschenrechtsnormen dem Verschwindenlassen gleichkommen und bei denen es sich umdie Kriegsverbrechen der rechtswidrigen Gefangenhaltung, Folter und anderer unmenschlicher Behandlung handelt.

«Sie sagten mir nicht, wo meine Mutter hingebracht wurde (...) Ich habe seitdem nichts mehr von ihr gehört.» 11-jähriger Junge, der von seiner Mutter getrennt wurde.

In einem von Amnesty International dokumentierten Fall wurde ein elfjähriger Junge während des «Filtrationsprozesses» von seiner Mutter getrennt, was gegen das humanitäre Völkerrecht verstösst. Der Junge und seine Mutter wurden Mitte April in den Iljitsch Eisen- und Stahlwerken in Mariupol von russischen oder russisch kontrollierten Streitkräften festgenommen und in ein «Filtrationslager» im Dorf Bezimenne in der sogenannten Volksrepublik Donezk gebracht. Der Junge berichtete Amnesty International: «Sie brachten meine Mutter in ein anderes Zelt. Sie wurde befragt (...) Sie sagten mir, dass ich meiner Mutter weggenommen werden würde (...) Ich war geschockt (...) Sie sagten mir nicht, wo meine Mutter hingebracht wurde (...) Ich habe seitdem nichts mehr von ihr gehört.»

«Der Internationale Strafgerichtshof und weitere zuständige Behörden auf internationaler und nationaler Ebene sollten diese abscheulichen Verbrechen untersuchen», sagte Callamard. «Die Verantwortlichen für die Verschleppungen sowie für Folter und andere Völkerrechtsverbrechen während der ‚Filtration‘ müssen zur Rechenschaft gezogen werden.»

Vorgehensweise

Für den Bericht hat Amnesty International 88 Frauen, Männer und Kinder aus der Ukraine interviewt. Bei den meisten handelte es sich um Zivilpersonen aus Mariupol oder aus den Regionen Charkiw, Luhansk, Cherson und Saporischschja. 43 Interviews wurden persönlich in Estland geführt. Die übrigen wurden telefonisch geführt. Zum Zeitpunkt der Interviews befanden sich bis auf eine der 88 Personen alle in Gebieten, die von der Ukraine kontrolliert werden, oder in sicheren Drittländern in Europa. Ein älterer Mann befand sich auf von Russland kontrolliertem Gebiet, da er das besetzte Donezk nicht verlassen konnte.

Dieses Vorgehen ergab sich aus den erheblichen Sicherheitsrisiken, denen Personen innerhalb Russlands oder in den von Russland besetzten Gebieten ausgesetzt wären, wenn sie über ihre Verschleppung oder andere erlittene Menschenrechtsverletzungen sprechen würden. Infolgedessen kann die Situation schlimmer sein als im Bericht beschrieben: Die Interviewpartner*innen von Amnesty International hatten die Mittel, Kontakte und die Möglichkeit, Russland zu verlassen, während viele andere keine Möglichkeit haben, Russland zu verlassen oder mit der Aussenwelt zu kommunizieren. Dies betrifft insbesondere Angehörige bestimmter gefährdeter Gruppen und vor allem Personen, die willkürlich festgehalten werden,

Verantwortung für Kriegsverbrechen

Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die gesamte Ukraine am 24. Februar 2022 dokumentiert Amnesty International Kriegsverbrechen und Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht. Alle Berichte von Amnesty International finden Sie hier.

Amnesty International hat in den vergangenen Monaten wiederholt dazu aufgerufen, die Verantwortlichen für die Aggression gegen die Ukraine sowie für Menschenrechtsverstösse und Kriegsverbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Amnesty International begrüsst die fortlaufenden Untersuchungen des Internationalen Strafgerichthofs in der Ukraine. Eine umfassende Einforderung der Rechenschaftspflicht kann nur mit konzertierten Aktionen der Vereinten Nationen und ihrer Organe gelingen sowie mit Initiativen auf nationaler Ebene gemäss der universellen Gerichtsbarkeit.

 

 

Hintergrund: Verschleppungen im humanitären Völkerrecht und im Völkerstrafrecht

Die Vierte Genfer Konvention verbietet «Einzel- oder Massenzwangsverschickungen sowie Verschleppungen von geschützten Personen» – wie z. B. Zivilpersonen – aus besetzten Gebieten.

Artikel 8 (2) des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) führt die «rechtswidrige Vertreibung oder Überführung» als ein Kriegsverbrechen auf. In Artikel 7(1) des Römischen Statuts wird die «Vertreibung oder zwangsweise Überführung der Bevölkerung» als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufgelistet. Um ein Völkerrechtsverbrechen darzustellen, muss die Verbringung erzwungen und völkerrechtlich unzulässig sein. Im Falle eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit muss das Vorgehen ausserdem im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis dieses Angriffs erfolgen. Es muss also im Zusammenhang mit der Politik eines Staates oder einer Organisation stehen, die einen solchen Angriff zum Ziel hat.

Der Bericht enthält weitere Informationen zur rechtlichen Analyse.