Der Bericht From freedom to censorship: Consequences of the Hungarian Propaganda Law (PDF, 56 pages in english) zeigt auf, wie stark die abschreckende Wirkung auf die Medien-, Werbe- und Verlagsbranche ist, die das Gesetz innerhalb von nur drei Jahren entwickeln konnte. Die Auswirkungen auf LGBTI* in Ungarn sind massiv.
«Das Propaganda-Gesetz hat ein Klima der Angst geschaffen. Der Zugang zu Informationen ist stark eingeschränkt, insbesondere für junge Menschen. Die Angst vor Sanktionen hält Menschen davon ab, Informationen bezüglich sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität weiterzugeben, zu suchen oder zu erhalten. Das Propaganda-Gesetz hat auch zu negativen Stereotypen und diskriminierenden Haltungen gegenüber LGBTI* beigetragen», sagte Eszter Mihály, die bei Amnesty International in Ungarn zu LGBTI*-Themen arbeitet.
«In den letzten zehn Jahren haben die ungarische Regierung und die staatlichen Medien eine Kampagne gegen LGBTI*-Rechte geführt. Sie setzten dabei eine stigmatisierende Rhetorik ein und nahmen diejenigen aus der Zivilgesellschaft ins Visier, die sich für Gleichberechtigung einsetzten.» Seit der Verabschiedung des Gesetzes ist der Zugang zu wichtigen Informationen über LGBTI*-bezogene Inhalte schwieriger geworden, insbesondere für Kinder und Jugendliche.
Das vage formulierte Verbot der «Darstellung und Förderung» von «unterschiedlichen Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen» in einigen Bereichen der öffentlichen Kommunikation – einschliesslich der öffentlichen Bildung, der Medien, der Werbung und einiger kommerzieller Aktivitäten – schüchtert diejenigen ein, die in diesen Bereichen arbeiten. Die Angst vor rechtlichen Konsequenzen und möglichen Verleumdungskampagnen in den regierungsnahen Medien hält viele davon ab, über LGBTI*-Themen zu sprechen und darüber zu informieren. Das gilt für Einzelpersonen und Organisationen gleichermassen.
Angst vor Sanktionen und Selbstzensur
Die Verfasser*innen des neuen Amnesty-Berichts kommen zu dem Schluss, dass einige Medienhäuser und Buchhandlungen in Ungarn Selbstzensur betreiben, um gesetzliche Sanktionen zu vermeiden. Autor*innen, Kreativagenturen und zivilgesellschaftliche Organisationen haben Mühe, sich mit den vagen Bestimmungen des Gesetzes zurechtzufinden. Zunächst wurde das Gesetz nicht in grossem Umfang durchgesetzt, doch dies änderte sich Anfang 2023. Seitdem leiten die Behörden zunehmend Verfahren gegen Buchhandlungen ein, die Bücher verkaufen, in denen LGBTI* eine Rolle spielen.
Von Amnesty International befragte Fachleute äusserten sich besorgt über die Auslegung des Gesetzes durch die Behörden. Sie waren unsicher, ob und wie sie ihre Tätigkeiten an die Gegebenheiten anpassen könnten, um Geldbussen und andere Strafen zu vermeiden. Krisztián Nyáry, Autor und Kreativdirektor von Líra Ltd, sagte gegenüber Amnesty International: «Man könnte auf alle Kinderbücher einen Warnhinweis schreiben, dass sie für die Eltern gedacht sind, und alles bliebe beim Alten. Doch diese Bücher müssen in Folie verpackt sein und dürfen in der Nähe von Schulen nicht verkauft werden. So etwas hat zur Folge, dass selbst gesetzestreue Buchhandlungen und Verlage in der Schwebe hängen und mit Strafen rechnen müssen.»
Das Gesetz sieht ausserdem vor, dass Fernsehsendungen und Filme, in denen LGBTI* vorkommen, nur im Erwachsenenprogramm gezeigt werden dürfen. Infolgedessen mussten die Medien ihre Programme und Streaming-Inhalte anpassen, um mögliche Strafen zu vermeiden.
Péter Kolosi, Programmdirektor des privaten Fernsehsenders RTL, berichtete Amnesty International, dass der Sender bestimmte Sendungen auf spätere Sendezeiten verlegt hat. Manche Inhalte werden gar nicht mehr ausgestrahlt. Die Autor*innen und Programmgestalter*innen des Senders mussten ihre Werke ändern, um sie mit dem Gesetz in Einklang zu bringen. Péter Kolosi sagte zu Amnesty International: «Dieses Gesetz ist inakzeptabel und diskriminierend. Ich denke, dass es tatsächlich eine neue Art von Zensur in den Medien eingeführt hat.»
Das Propaganda-Gesetz hat dazu geführt, dass gegen einige Anbieter*innen von Medieninhalten und Buchhändler*innen rechtliche Schritte eingeleitet wurden. Eine Buchhandelskette musste eine Geldstrafe zahlen, weil sie altersgerechte Bücher mit gleichgeschlechtlichen Paaren in der Kinderabteilung führte. Eine andere Buchhandlung wurde mit einer Geldstrafe belegt, weil sie ein Buch ausgestellt hatte, in dem eine trans Person vorkam, ohne darauf hinzuweisen, dass es sich um ein Buch für Erwachsene handelte.
Einige Autor*innen mussten ihre Jugendbücher als Bücher für Erwachsene kennzeichnen. Eine Autorin berichtete Amnesty International, dass sie in den Sozialen Medien zunehmend bedroht und drangsaliert werde, nur weil sie über LGBTI* schreibt.
Die Autorin Dóra Papp beschrieb Amnesty International, wie sie in den Sozialen Medien in einer Weise bedroht wurde, wie sie es vor der Verabschiedung des Gesetzes nicht erlebt hatte: Eine Person drohte ihr, sie bei einer Buchsignierung anzuspucken. Sie berichtete Amnesty International: «Es geht mir psychisch immer schlechter. Nach so vielen Jahren des Signierens, in denen es ein Vergnügen war, Leser*innen zu treffen, bekam ich Angst, weil ich nicht wusste, wie ernst ich die Drohung nehmen sollte.»
Sie beschreibt auch, wie sich die Abschreckungspolitik auf neue Schriftsteller*innen auswirkt: «Sie haben mir von ihrer Angst erzählt. Entweder trauen sie sich nicht, das Buch, an dem sie arbeiten, zu beenden, oder sie trauen sich nicht, ihr Werk in Ungarn zu veröffentlichen.»
Amnesty fordert Aufhebung des Propagandagesetzes
Die Ergebnisse von Amnesty International zeigen, dass das Propaganda-Gesetz von 2021 sowohl das Recht auf freie Meinungsäusserung als auch das Recht von Kindern auf Zugang zu Informationen in einer Weise einschränkt, die weder gesetzlich vertretbar noch notwendig oder verhältnismässig ist. Das Gesetz verfolgt kein legitimes Ziel und ist daher nicht mit internationalen Menschenrechtsnormen und -standards vereinbar.
«Das Propaganda-Gesetz ist rechtswidrig. Durch weitreichende Beschränkungen – unter anderem für die Medien, die Werbung und das Verlagswesen – untergräbt es das Recht auf Meinungsfreiheit massiv», sagte Eszter Mihály.
«Dieses Gesetz hat in Ungarn keinen Platz. Es trägt zur zunehmenden Stigmatisierung und negativen Stereotypisierung von LGBTI* bei. Es muss sofort aufgehoben werden! Ausserdem müssen Massnahmen ergriffen werden, um den Schaden, den es bereits angerichtet hat, zu beheben.»