Seit drei Jahren werden auf dem Nord-Sinai immer wieder Angehörige der religiösen Minderheit entführt und ermordet. Die Regierung hat bislang nichts unternommen, um die Menschen zu schützen. Amnesty International fordert die ägyptischen Behörden auf, die Sicherheit der ägyptischen Kopten und Koptinnen zu gewährleisten und die Geflüchteten ausreichend zu versorgen.
Die Behörden haben es auch in anderen Regionen Ägyptens versäumt, die Verantwortlichen religiös motivierter Angriffe gegen Christinnen und Christen vor Gericht zu stellen. Stattdessen wurden christliche Familien immer wieder Opfer von Zwangsräumungen.
Die 9 Millionen ägyptischen KoptInnen sind die grösste christliche Gemeinschaft im Nahen Osten.
Allein aus der Stadt al-Arish im Nord-Sinai sind mindestens 150 koptische Familien aufgrund der jüngsten Gewalt geflohen, verkündete die ägyptische Regierung. Die meisten haben im benachbarten Regierungsbezirk Ismailia Zuflucht gesucht. Sie müssen dort in überfüllten Notunterkünften ausharren.
Bekennervideo des «Islamischen Staats»
«Die ägyptischen Behörden haben es durchgehend versäumt, die Kopten im Norden Sinais vor der seit langem herrschenden Gewalt zu schützen», sagte Najia Bounaim, stellvertretende Campaignerin im tunesischen Regionalbüro von Amnesty International. «Die Regierung muss sicherzustellen, dass alle Vertriebenen Zugang zu Unterkünften, Essen, Wasser und medizinischer Versorgung haben.»
Bei den jüngsten Angriffen zwischen dem 30. Januar und 23. Februar 2017 wurden sieben Angehörige der Kopten im Norden des Sinai getötet. Am 19. Februar veröffentlichte ein im Sinai ansässiges Mitglied des «Islamischen Staats» ein Video, in dem die Terrormiliz koptische ChristInnen mit dem Tod bedroht und gleichzeitig die Verantwortung für den Bombenanschlag auf eine Kirche in Kairo im Dezember 2016 übernimmt. Bei dem Anschlag wurden mindestens 25 Menschen getötet. Seit 2013 haben bewaffnete Gruppen auf dem Sinai koptische Christen entführt, um Lösegeld zu erpressen und sie in manchen Fällen getötet.
Majid Halim (Name geändert) floh nach den Morden im vergangenen Monat mit sieben Angehörigen von al-Arish nach Kairo. Er berichtete Amnesty International, dass sein Vater, der Besitzer eines Schreibwarenladens, viele Drohungen erhalten habe. Auf Facebook posteten Islamisten ein Foto seines Vaters und riefen zu Gewalt gegen Kopten auf. Majid Halim, sein Vater und sein Bruder flüchteten – und mussten ihre Existenzgrundlage hinter sich lassen: darunter drei Läden und das Haus der Familie.
Nabila Fawzy war Zeugin wie ihr Ehemann und ihr Sohn am 21. Februar von maskierten Männern getötet wurden. Sie berichtet, dass um 22:30 Uhr jemand wild gegen die Haustür klopfte. Als ihr Sohn die Tür öffnete, warfen ihn zwei bewaffnete Männern zu Boden und schossen ihm in den Kopf. Nabila Fawzy sah ihren Sohn am Boden liegen, ihm lief Blut aus der Nase. Danach erschossen die Männer ihren Ehemann. Sie nahmen Nabila Fawzy den Ehering ab, plünderten das Haus und setzen es anschliessend in Brand.
Ägyptische Regierung in der Pflicht
Die Vertriebenen der jüngsten Gewaltausbrüche im Norden des Sinai, unter ihnen auch viele Kinder und ältere Menschen, haben entweder in überfüllten Kirchen, Regierungsgebäuden oder bei Gastfamilien Unterschlupf gefunden. Viele konnten nur mitnehmen, was sie tragen konnten, als sie aus ihren Häusern flüchteten. Sie haben ihren Arbeitsplatz und ihre Lebensgrundlage verloren oder mussten Schule und Studium abbrechen.
«Die ägyptischen Behörden müssen dafür sorgen, dass die Vertriebenen an sicheren Orten dauerhaft wohnen können, Zugang zu Grundversorgung haben und ihnen die Möglichkeit eingeräumt wird, ihre Ausbildung oder Arbeit wieder aufzunehmen», sagte Najia Bounaim.
Die Behörden müssen zudem sicherzustellen, dass die Häuser der Vertriebenen weder geplündert, zerstört noch rechtswidrig beschlagnahmt werden. Darüber hinaus müssen sie dafür sorgen, dass die Vertriebenen in ihre Heimat zurückkehren oder dauerhaft in anderen Teilen des Landes leben können.
Die Angriffe auf ChristInnen sind in Ägypten seit der Amtsenthebung des ehemaligen Präsidenten Mohamed Mursi im Juli 2013 eskaliert. Koptische Kirchen und Häuser wurden in Brand gesetzt, Mitglieder der koptischen Minderheit wurden angegriffen und ihre Häuser geplündert. Im vergangenen Jahr kam es im Regierungsbezirk Minya zu vielen gewaltsamen Übergriffen auf koptische ChristInnen.