Irakische Sicherheitskräfte zielen auf Demonstranten auf einer Brücke über der Mohammed al-Qasim-Autobahn  in Bagdad, 21. Januar 2020.  @ Ali Dab Dab
Irakische Sicherheitskräfte zielen auf Demonstranten auf einer Brücke über der Mohammed al-Qasim-Autobahn in Bagdad, 21. Januar 2020. @ Ali Dab Dab

Proteste im Irak Brutale Repression der Sicherheitskräfte

Medienmitteilung 24. Januar 2020, London/Bern – Medienkontakt
Die Zahl der Menschen, die seit dem Ausbruch von Protesten im Oktober 2019 von Sicherheitskräften getötet wurden, ist auf bis zu 600 Tote gestiegen. Amnesty bestätigt den erneuten Einsatz scharfer Munition gegen Demonstrierende in den letzten Tagen. Allein zwischen dem 20. und 22. Januar wurden 12 Tötungen gemeldet.

Die von Amnesty International analysierten Augenzeugenberichte und Videos aus dem Irak bestätigen, dass die Sicherheitskräfte ihre Kampagne tödlicher Gewalt gegen weitgehend friedliche Demonstranten in Bagdad und in Städten im Südirak wieder aufgenommen haben. So wurden erneut  scharfe Munition und tödliche Tränengas-Granaten eingesetzt. Auch wurden wieder zahlreiche Menschen verletzt oder verhaftet, einige wurden in Haft gefoltert oder misshandelt.

«Diese beunruhigenden Hinweise deuten darauf hin, dass die irakischen Sicherheitskräfte ihre tödliche Repressionskampagne gegen Demonstrierende, die lediglich ihr Recht auf freie Meinungsäusserung und friedliche Versammlung ausüben, wieder aufgenommen haben. Diese jüngste Eskalation ist ein deutliches Anzeichen dafür, dass die irakischen Behörden keinerlei Absicht haben, diesen schweren Menschenrechtsverletzungen wirklich ein Ende zu setzen», sagte Lynn Maalouf, die Recherche-Leiterin  von Amnesty International für den Nahen Osten. «Die Anwendung tödlicher Gewalt, um abweichende Meinungen zum Schweigen zu bringen, muss sofort beendet werden. Die Behörden hatten Monate Zeit, ihre Strategie zur gewaltsamen Unterdrückung zu beenden. Anstatt sie zu schützen wurden weitgehend friedliche Demonstrierende willkürlich getötet und verstümmelt.»

Scharfe Munition abgefeuert

Zwei junge Männer, die von Amnesty International interviewt wurden, schilderten am 21. Januar erschütternde Szenen bei der Mohammed al-Qasim-Autobahnüberführung in Bagdad -  etwa 1,2 km nordöstlich des Tahrir-Platzes, einem Schwerpunkt der Proteste.

«In einigen Fällen griffen sie die Demonstranten an den Armen und warfen sie von der Überführung. Die Autobahnbrücke befindet sich etwa fünf bis sieben Meter über dem Boden». Augenzeuge in Bagdad

Einer der Männer beschrieb, was geschah, als die Sicherheitskräfte eingriffen: «[Drei Demonstranten] starben, weil ihnen in den Kopf geschossen wurde. Einige der Demonstrierenden waren auf der Autobahn, es kam zu Zusammenstössen mit den Sicherheitskräften. Diese setzten scharfe Munition ein, um die Protestierenden von der Autobahn zu vertreiben, und in einigen Fällen griffen sie die Demonstranten an den Armen und warfen sie von der Überführung. Die Autobahnbrücke befindet sich etwa fünf bis sieben Meter über dem Boden».

Das Crisis Evidence Lab von Amnesty International hat mehrere Videos geolokalisiert und verifiziert, die Ereignisse vom 21. Januar entlang der Autobahnüberführung zeigen. Eines der Videos zeigt deutlich mehrere Fahrzeuge mit dem Logo eines Elite-SWAT-Teams, das dem Premierminister unterstellt ist.

Tränengas-Granaten auf Köpfe von Demonstrierende abgefeuert

Mehrere Videos von der Mohammed al-Qasim-Autobahnbrücke zeigen maskierte, uniformierte Männer, die am 21. Januar aus nächster Nähe Tränengasgranaten direkt auf die Köpfe der Demonstrierenden schoss

Einer der Demonstranten, der am 21. Januar vor Ort war, sagte: «Ich habe gesehen, wie einer der Anti-Riot-Mitglieder mit einer Tränengasgranate auf das Gesicht eines Jungen schoss. Er war nur ein oder zwei Meter entfernt, als er ihm ins Gesicht schoss. Es war schockierend. Wie eine Hinrichtung. Es brach Chaos aus. Ich dachte, er sei sicher tot, aber er hat überlebt. Er befindet sich in einem kritischen Zustand. Ein anderer Junge starb gestern, als ihn eine Granate am Kopf traf, aber das habe ich nicht mit meinen eigenen Augen gesehen.»

Mehrere schockierende Videos, die über soziale Medien verbreitet wurden, fingen die Momente ein, als die Opfer dieser Angriffe in Tuk Tuks vom Tatort weggebracht wurden. Laut verifizierten Videos und Augenzeugenaussagen wurde eine junge Sanitäterin, die verletzten Demonstranten half, von den Sicherheitskräften festgenommen und erst am nächsten Tag wieder freigelassen.

Bereits im Oktober und November setzten die Sicherheitskräfte Tränengas- und Rauchgranaten aus iranischer und serbischer Produktion ein, die für militärische Zwecke bestimmt sind. Dabei wurden Dutzende von Demonstrierenden getötet.

Bewaffneter Überfall auf Wohngebiet

Weitere Augenzeugen berichteten Amnesty International, wie am Abend des 21. Januars bewaffnete Mitglieder der Präsidialgarde Protestierende durch die Strassen von al-Dora, einem Wohn- und Geschäftsviertel einige Kilometer südlich des Stadtzentrums, jagten.

Ein junger Mann, der seit Oktober in die dortigen Proteste verwickelt war, sagte gegenüber Amnesty International: «Die Präsidentschaftskräfte am dortigen Hauptkontrollpunkt erhielten Unterstützung. Ein Lastwagen voll... Sie waren jetzt alle bewaffnet und begannen, in die Luft zu schiessen und Menschen zu verfolgen. Sie schlugen die Leute und schleppten sie weg. Sehr junge Burschen. Wir begannen durch die Al-Tuma-Strasse zu rennen. Dort gibt es Cafés und eine Sporthalle, und die Leute begannen, in die Geschäfte zu rennen. Sie jagten sie in die Läden und schleppten sie weg. Sie nahmen auch jeden im Laden mit, der versuchte, den Demonstranten zu helfen. Sie nahmen den Leuten, die filmten, die Telefone ab und nahmen jeden mit, der sich weigerte, ihnen das Telefon zu übergeben.»

Amnesty International hat auch Filmmaterial von al-Dora analysiert, das zeigt, wie Sicherheitskräfte nach Einbruch der Dunkelheit am 21. Januar mit scharfer Munition auf fliehende Demonstranten schossen.

Blutige Razzia in Basra

AktivistInnen in Basra beschrieben, wie die Sicherheitskräfte die Demonstrierenden am 21. und 22. Januar mit scharfer Munition beschossen, niederknüppelten und gewaltsam auseinandertrieben.

Ein Aktivist, der den Demonstrierenden erste Hilfe leistete, sagte: «Die Sicherheitskräfte gingen mit den härtesten und schmutzigsten Mitteln gegen die Demonstrierenden vor. Sie schlugen so lange auf sie ein, bis ihre Kleider zerrissen und einige das Bewusstsein verloren, dann trugen sie sie auf die Rückseite der Fahrzeuge der Schocktruppen [dem Innenministerium angegliederte Sicherheitskräfte in Basra].»

Amnesty International hat fotografische Beweise schwerer Wunden auf dem Rücken eines Protestierenden gesehen, die auf Folter hindeuten. In den sozialen Medien wurde ein Video veröffentlicht, das offenbar in der Nähe der Al-Maqal-Polizeihauptquartier gefilmt wurde und in dem die Schreie der Häftlinge zu hören waren.

Ein Protestierender in Basra erzählte Amnesty International, wie die gewaltsame Niederschlagung in den letzten Tagen eskalierte, als Sicherheitskräfte verschiedener Einsatztruppen eintrafen:

«Ich war Zeuge vieler Fälle, in denen die Sicherheitskräfte Menschen auf den Boden zerrten und sie verprügelten. Einige waren minderjährig, höchstens 14 oder 15 Jahre alt.» Augenzeuge in Basra

«Sie versuchten, die Proteste zu zerstreuen und jede Art von Versammlung mit Gewalt aufzulösen. Ich war Zeuge vieler Fälle, in denen die Sicherheitskräfte Menschen auf den Boden zerrten und sie verprügelten. Einige der Opfer waren minderjährig, höchstens 14 oder 15 Jahre alt. Wenn sie zurückkehrten, hatten sie Spuren von Knüppeln und Stöcken auf ihren Körpern».

Er beschrieb die intensive Gewalt der Sicherheitskräfte während der Nächte vom 21. und 22. Januar wie folgt: «In den letzten beiden Nächten war es das gleiche Muster, die Sicherheitskräfte kommen zwischen 23.00 und 24.00 Uhr, wenn es weniger Demonstrierende gibt, und fingen an zu schiessen. Es war, als kämen sie nur, um uns zu töten.»

Amnesty International hat Videos verifiziert, die zeigen, dass die Sicherheitskräfte in Basra mit scharfer Munition schiessen und dass am 21. Januar eine offenbar verwundete Person die Dinar-Strasse entlang getragen wurde.

«Dieses abscheuliche Muster von Tötungen, Folter und Repression muss unverzüglich gestoppt werden», sagte Lynn Maalouf.  «Tausende Iraker wurden in den vergangenen vier Monaten unrechtmässig getötet, verletzt oder willkürlich inhaftiert. Die irakischen Behörden müssen dringend die Sicherheitskräfte zügeln, die Verantwortlichen für die schweren Verstösse absetzen und gründliche, unabhängige Untersuchungen einleiten, um Rechenschaft und Wiedergutmachung für die Opfer und ihre Familien zu erreichen. Die Welt schaut genau hin.»