Ausserdem müssen die iranischen Behörden dringend Gesetze ausser Kraft setzen, die Frauen und Mädchen zur Verschleierung zwingen, die Gewalt gegen sie Vorschub leisten und die sie ihres Rechts auf Würde und körperliche Selbstbestimmung berauben. Darüber hinaus müssen sie die «Sittenpolizei» abschaffen, die für die Durchsetzung dieser missbräuchlichen und diskriminierenden Gesetze verantwortlich ist.
Zwei Wochen nach der willkürlichen Festnahme von Mahsa Amini in Teheran und zehn Tage nach ihrem Tod haben die iranischen Behörden weder angemessene Ermittlungen der Umstände ihres Todes in Polizeigewahrsam durchgeführt, noch Schritte unternommen, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Stattdessen haben sie wiederholt die Verantwortung für den Tod der jungen Frau von sich gewiesen, wichtiges Beweismaterial unterschlagen und ihrer Familie und anderen, die die offizielle Version in Frage stellen und Gerechtigkeit fordern, gedroht.
Angesichts der anhaltenden Weigerung der iranischen Behörden, schwerste Verbrechen nach dem Völkerrecht wirksam zu untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, müssen sich die UNO-Mitgliedstaaten dringend für die Einrichtung eines internationalen Untersuchungs- und Rechenschaftsmechanismus durch den UNO-Menschenrechtsrat einsetzen, um die systematische Straflosigkeit im Iran anzugehen.
Die Unterstützung für einen derartigen Mechanismus würde den iranischen Behörden die Botschaft vermitteln, dass es keine Toleranz gibt bei schwersten Verbrechen nach dem Völkerrecht und anderen Menschenrechtsverletzungen, wie rechtswidrigen Tötungen, Folter und anderen Misshandlungen, darunter von Frauen, die sich der Zwangsverschleierung widersetzen.
Willkürliche Festnahmen im Rahmen des Gesetzes zur Zwangsverschleierung
Die aus Saqqez in der Provinz Kurdistan stammende Mahsa Amini befand sich am 13. September 2022 zusammen mit ihrem jüngeren Bruder in Teheran, als sie von der iranischen «Sittenpolizei» (gasht-e ershad) angehalten und festgenommen wurde. Die «Sittenpolizei» nimmt regelmässig Frauen fest, die sich dem strengen Verschleierungsgesetz Irans widersetzen, das Frauen und Mädchen schon ab neun Jahren dazu zwingt, Haar und Körper bedeckt zu halten.
Augenzeug*innen zufolge wurde Mahsa Amini von der «Sittenpolizei» in einen Polizeiwagen gestossen und während ihres Transports in das Vozara-Gefängnis in Teheran geschlagen. Wie ihr Bruder am 14. September 2022 in einem Interview berichtete, hatten die Angehörigen der «Sittenpolizei», die die Festnahme durchführten, ihnen beiden gesagt, man würde Mahsa Amini zu einem «Erziehungskurs» der «Sittenpolizei» in die Haftanstalt bringen. Dieser diene dazu, das Verhalten von Frauen und Mädchen, die gegen die strenge islamische Kleiderordnung im Iran verstossen, zu «reformieren». Mahsa Aminis Bruder wurde ebenfalls geschlagen, als er gegen ihre Festnahme protestierte.
Tod in Polizeigewahrsam mutmasslich nach Folter und andere Misshandlungen
Mahsa Amini fiel wenige Stunden nach ihrer Festnahme ins Koma und wurde in einem Krankenwagen vom Vozara-Gefängnis ins Kasra-Krankenhaus in Teheran gebracht. Sie starb drei Tage später, am 16. September 2022, im Krankenhaus.
Vor ihrem Tod, als sich Mahsa Amini auf der Intensivstation des Kasra-Krankenhauses befand, gab es glaubwürdige Augenzeugenberichte, denen zufolge die «Sittenpolizei» sie im Polizeiwagen Folter und anderen Misshandlungen ausgesetzt und unter anderem auch auf den Kopf geschlagen habe. Auf diese Augenzeugenberichte folgten umgehend Stellungnahmen der Behörden, die dementierten, Masha Amini gefoltert zu haben, unglaubwürdige Gründe für ihre Einlieferung ins Krankenhaus anführten und im Anschluss gefälschte Berichte über die Todesursache vorlegten, ohne unparteiische und umfassende Untersuchungen durchzuführen.
Bereits am 14. September 2022 berichtete der Bruder von Mahsa Amini in einem Medieninterview, er und andere Familien, die am Tag zuvor, kurz nach der Festnahme von Mahsa Amini, vor dem Vozara-Gefängnis auf inhaftierte weibliche Familienangehörigen warteten, hätten plötzlich Schreie aus dem Gebäude gehört. Kurz darauf seien Sicherheitskräfte aus dem Gefängnis gekommen, hätten Tränengas auf alle draussen versammelten Familien abgefeuert und sie mit Stöcken geschlagen. Fünf Minuten nach diesem Vorfall habe dann ein Krankenwagen das Gefängnis verlassen. Weiter sagte er:
«Ich habe Prellungen am ganzen Körper, und meine Augen brennen noch von letzter Nacht. Alle Mädchen, die aus der Haftanstalt kamen, sagten: ‚Sie haben jemanden getötet.‘ Ich habe den Mädchen ein Bild von Mahsa gezeigt, und eine von ihnen meinte, sie wäre direkt bei Mahsa gewesen, als dies passiert sei. Ich habe einen der Soldaten[1] gefragt, was passiert ist, und er meinte, einer der Soldaten sei verletzt worden. Das war eine Lüge. Mahsa war in dem Krankenwagen. Eine halbe Stunde nach dem Zeitpunkt, an dem der Krankenwagen abgefahren ist, habe ich herausgefunden, dass sich meine Schwester darin befand. Sie haben Mahsa [aus dem Gefängnis] weggebracht, während ich noch immer vor dem Vozara auf meine Schwester wartete.»
Laut Medieninterviews mit der Familie von Mahsa Amini und aufgrund anderer Informationen, die Amnesty International aus verlässlichen Quellen erhalten hat, wurde sie nach ihrer Festnahme von Sicherheitskräften in einem Wagen der «Sittenpolizei» geschlagen. In einem Interview, das einige Tage nach ihrem Tod veröffentlicht wurde, sagte ihr Vater, nach den Berichten einiger anderer Frauen, die mit Mahsa Amini festgenommen und in dem Polizeiwagen festgehalten wurden und ihn nach ihrer Freilassung kontaktiert hätten, sei sie von einem Angehörigen der Sicherheitskräfte gestossen und geschlagen worden. Sie erzählten ihm auch, dass sie von den Sicherheitskräften mit unterschiedlichen Gegenständen geschlagen worden sei.
Ein Foto der im Krankenhausbett liegenden Mahsa Amini, das am 15. September 2022 in den Sozialen Medien verbreitet wurde, löste im Iran erneut grosse Empörung aus. In dem Versuch, Kritik zu entkräften und Augenzeugenberichte, nach denen sie in der Haft Folter und anderen Misshandlungen ausgesetzt war, zu widerlegen, gab das Polizeiinformationszentrum in Teheran noch am gleichen Tag bekannt, dass Mahsa Amini einen Herzinfarkt erlitten habe, ohne dafür jedoch einen Nachweis zu liefern. Ausserdem veröffentlichten die Behörden in den staatlichen Medien ein Video, auf dem zu sehen ist, wie eine Frau, bei der es sich nach ihren Angaben um Mahsa Amini handelt, plötzlich zu Boden fällt und vor Ort medizinisch versorgt wird.
Behauptungen, Mahsa Amini habe einen Herzinfarkt erlitten, wurden von ihrer Familie entschieden zurückgewiesen. Einem Medieninterview mit ihrer Mutter zufolge, das vor ihrem Tod am 16. September 2022 veröffentlicht wurde, sei Mahsa Amini vor ihrer Festnahme kerngesund gewesen und habe keinerlei gesundheitlichen Probleme gehabt, die einen plötzlichen Herzinfarkt erklären könnten.
In einer Stellungnahme des Kasra-Krankenhauses vom 16. September 2022 auf Instagram hiess es, dass Mahsa Amini am 13. September 2022 um 20:22 Uhr nach dem Erleiden eines Herzinfarkts in das Krankenhaus aufgenommen wurde. Zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme habe es keine Lebenszeichen gegeben und sie sei hirntot gewesen. Des Weiteren heisst es, dass sie vor Ort wiederbelebt und zur Behandlung auf der Intensivstation behalten wurde. Am 16. September habe sie jedoch einen weiteren Herzinfarkt erlitten und wurde am gleichen Tag für tot erklärt. Ihre Leiche sei dann zur weiteren Untersuchung an die Organisation für Rechtsmedizin übergeben worden, einem staatlichen forensischen Institut, das der Justiz untersteht. Die Erklärung wurde wenige Stunden nach ihrer Veröffentlichung aus dem Instagram-Account des Krankenhauses entfernt.[2]
In einem Medieninterview vom 18. September sagte Mahsa Aminis Onkel, die Ärzt*innen im Krankenhaus von Kasra hätten der Familie mitgeteilt, dass ihr Hirngewebe geschädigt sei und ihr Herz und ihre Nieren versagt hätten. Sie erteilten keine weiteren Informationen und gaben auch keine Krankenakte heraus.
Unabhängige strafrechtliche Ermittlungen zur Aufklärung des Todes erforderlich
Die Pflicht zur Untersuchung möglicher rechtswidriger Todesfälle ist ein wesentlicher Bestandteil der Gewährleistung des Rechts auf Leben. Bei jedem Todesfall in Polizeigewahrsam ist von einer Verantwortung des Staates auszugehen, und schon das Versäumnis einer Untersuchung stellt einen Verstoss gegen das Recht auf Leben dar. Untersuchungen durch Behörden müssen dem Völkerrecht und internationalen Standards genügen und sollten nach Massgabe des Minnesota-Protokolls der Vereinten Nationen über die Untersuchung potenziell rechtswidriger Tötungen erfolgen, das einen gemeinsamen Standard aus Prinzipien und Richtlinien bei der Untersuchung möglicher rechtswidriger Todesfälle bereitstellt.[3] Untersuchungen zur Feststellung der Wahrheit über die Ursachen und Umstände von Todesfällen in Polizeigewahrsam müssen unverzüglich, unparteiisch, transparent, wirksam und gründlich sein und von unabhängigen und kompetenten Behörden durchgeführt werden, die in keiner institutionellen Beziehung zu der für den Gewahrsam zuständigen Behörde stehen.
Bis heute haben die Behörden trotz zahlreicher Versprechungen, unter anderem seitens des Präsidenten und der Obersten Justizautorität (Leiter der Justizbehörden), noch keine vollständige und transparente Untersuchung durch eine von den mutmasslichen Verantwortlichen oder deren Einfluss unabhängige Stelle durchgeführt. In offiziellen Stellungnahmen zum Tod von Mahsa Amini, auch durch jene, die mit der Untersuchung ihres Todes beauftragt sind, werden die Behörden von jeglicher Verantwortung freigesprochen, wichtige Beweismittel unterschlagen und Drohungen gegen ihre Familie und all jene ausgesprochen, die der offiziellen Darstellung widersprechen. All dies zeigt, dass sich im Iran keine unabhängige und unparteiische Untersuchung durchführen lässt.
Die Weigerung der Behörden, den Tod von Mahsa Amini angemessen und umfassend zu untersuchen, ist ein weiterer Ausdruck der seit langem bestehenden systematischen Straflosigkeit für Verbrechen nach dem Völkerrecht und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen durch die iranischen Behörden, zu denen auch Todesfälle in Polizeigewahrsam gehören.
Leugnung, Verzerrung und Vertuschung
Nach dem Tod von Mahsa Amini beauftragte der iranische Präsident Ebrahim Raisi den Innenminister mit der Durchführung einer Untersuchung ihres Todes in Polizeigewahrsam. Eine Untersuchung durch das Innenministerium, das für die Polizeikräfte des Landes verantwortlich ist und eine zentrale Rolle bei der Festlegung ihrer Richtlinien und Massnahmen spielt, erfüllt jedoch nicht das Kriterium der Unabhängigkeit nach internationalen Standards und ist kein Ersatz für eine strafrechtliche Untersuchung durch ein unabhängiges, unparteiisches Gremium.
Wie sehr es dem Innenministerium an Unparteilichkeit fehlt und wie unfähig das Ministerium ist, seine eigenen Abteilungen unabhängig zu untersuchen, wurde bereits vor Abschluss der Untersuchung durch die jüngsten voreingenommenen Äusserungen des iranischen Innenministers Ahmad Vahidi deutlich. Er äusserte sich in einem Interview vom 24. September 2022 zu den jüngsten Entwicklungen in der Untersuchung von Mahsa Aminis Todesfall wie folgt:
«Die Ergebnisse verschiedener Untersuchungen haben gezeigt, dass es keine Schläge [gegen Mahsa Amini] und keine Schädelfraktur gab. Bei den Ermittlungen geht es um zwei Fragen. Zum einen mussten wir untersuchen, ob die Behauptungen, die Verstorbene sei geschlagen worden, richtig oder falsch sind. Nach Prüfung der Kameraaufnahmen und der Berichte des Kasra-Krankenhauses und der Organisation für Rechtsmedizin wurde festgestellt, dass es keine Anzeichen für Schläge oder Hirnblutungen gab. In der Organisation für Rechtsmedizin wurde offiziell bekannt gegeben, dass es keine Schädelfrakturen oder Quetschungen der inneren Organe gab. Die andere Frage ist die nach der Todesursache, und dazu müssen wir auf das endgültige Gutachten der Organisation für Rechtsmedizin warten.»
In Übereinstimmung mit früheren Handlungen und Erklärungen, die dazu dienten, die Behörden von der Verantwortung freizusprechen, erklärte der Innenminister weiter, dass diejenigen, die Behauptungen verbreiteten, Mahsa Amini sei in der Haft gefoltert worden, eine «unverantwortliche, uninformierte und voreingenommene Haltung» einnehmen und mit den Vereinigten Staaten und europäischen Ländern sowie «konterrevolutionären und terroristischen Gruppen wie den monafeqin» zusammenarbeiten würden.[4] Derartige Aussagen geben Anlass zur Besorgnis hinsichtlich eines möglichen Drucks auf Augenzeug*innen, die sich gemeinsam mit Mahsa Amini im Wagen der «Sittenpolizei» befanden und Ahmad Vahidi zufolge Teil der Ermittlungen durch das Innenministerium sind.
Zudem gab der Polizeichef von Teheran, Hossein Rahimi, in den Tagen nach dem Tod von Mahsa Amini mehrere Medieninterviews, in denen er die Behörden noch vor Abschluss der Untersuchungen von einer Verantwortung freisprach. In einem Interview sagte er Folgendes: «Es handelt sich um einen bedauerlichen Vorfall, und ich hoffe, dass wir eine solche Situation nicht noch einmal erleben werden ... Alle Aussagen, die im Internet über die Todesursache gemacht werden, sind völlig falsch ... Wir bitten die Menschen, den Gerüchten keine Beachtung zu schenken ... Die Polizei hat in diesem Fall nichts falsch gemacht.»
Unterschlagung wichtiger Beweise
Amnesty International befürchtet, dass die Behörden Beweismaterial, darunter Videos sowie medizinische und forensische Unterlagen, die für die Ermittlung der Ursachen und Umstände von Mahsa Aminis Tod wichtig sein könnten, unterschlagen. Auch ihre Verwandten sprachen davon, dass die Behörden sie daran gehindert hätten, Mahsa Aminis Kopf und ihren Körper vor der Beerdigung zu sehen, was Befürchtungen aufkommen liess, dass sie dadurch sichtbare Verletzungen oder andere Spuren verbergen wollten.
Die Angehörigen von Mahsa Amini, die öffentlich eine Untersuchung ihrer Todesumstände forderten, haben vergeblich darum ersucht, Zugang zu den Überwachungsvideos zu erhalten, die im dem Inneren des Polizeiwagens und im Vozara-Gefängnis sowie von den Bodycams der Angehörigen der «Sittenpolizei» bei ihrer Festnahme gemacht wurden.
Am 19. September 2022 erklärte der Teheraner Polizeichef, Hossein Rahimi, in einem Medieninterview, dass Polizeikräfte vor diesem Vorfall zwar mit Bodycams ausgestattet gewesen seien, es bei dieser Gelegenheit jedoch nicht der Fall gewesen sei. Ausserdem behauptete er, die Familie von Mahsa Amini hätte Zugriff auf Überwachungsvideos erhalten. Diese Behauptung wurde ebenfalls von ihrem Vater zurückgewiesen. Er sagte in einem Interview vom 20. September 2022 Folgendes:
«Ich habe Zugang zu dem Videomaterial aus den Kameras im Polizeiwagen und im Hof des Vozara-Gefängnisses angefordert, aber sie [die Behörden] haben mir nicht mal geantwortet. Das gesamte [von den Behörden] online veröffentlichte Videomaterial wurde zensiert. Alles, was sie sagen und das Videomaterial, das sie zeigen, sind Lügen, und wir konnten gar nichts verstehen.»
Die Behörden haben sich auch geweigert, der Familie von Mahsa Amini ihre gesamten Krankenunterlagen sowie den Autopsiebericht auszuhändigen. Am 19. September 2022 veröffentlichte Iran International, ein unabhängiges Nachrichtenorgan mit Sitz ausserhalb Irans, mehrere Schnitte (Aufnahmen) eines CT-Scans von Mahsa Aminis Torso und Gehirn, die nach eigenen Angaben aus dem Kasra-Krankenhaus geschmuggelt wurden. Daraufhin veröffentlichte der staatsnahe Medienkanal Fars News Agency sofort einen Bericht, dem zufolge die CT-Aufnahmen in der Tat von Mahsa Amini stammten, Untersuchungen durch vom Sender konsultierte medizinische Fachleute jedoch gezeigt hätten, dass ihr Hirn kein Trauma aufwies, sondern vielmehr darauf hindeuteten, dass ihr bereits ein Hirntumor entfernt worden sei.
Diese von der Fars News Agency verbreiteten Schlussfolgerungen stehen im Widerspruch zu den Analysen, die Amnesty International von drei unabhängigen Expert*innen für forensische Pathologie zu den Bildern des CT-Scans vorgelegt wurden. Die drei Expert*innen hatten Amnesty International darüber informiert, dass die CT-Aufnahmen unvollständig sind. Wie sie Amnesty mitteilten, scheint «im rechten Schläfenbereich eine merkwürdige Strahlendurchlässigkeit» vorhanden zu sein, die sie sich nicht erklären können, ohne alle CT-Schnitte gesehen zu haben.
Am 21. September 2022 veröffentlichte die Organisation für Rechtsmedizin der Provinz Teheran ihre ersten Untersuchungsergebnisse zum Tod von Mahsa Amini. Mehdi Frouzesh, der Leiter der Organisation, erklärte Folgendes: «Physische Untersuchung und Obduktion haben keine Hinweise auf Verletzungen von Kopf und Gesicht, Blutergüssen um die Augen oder Frakturen an der Schädelbasis ergeben. Bei der Obduktion des Rumpfes und des Unterleibs wurden keine Anzeichen von Blutungen, Quetschungen oder Risswunden an den inneren Organen des Körpers festgestellt.» Des Weiteren behauptete er, dass Mahsa Amini ihren Krankenunterlagen zufolge im Alter von acht Jahren eine Hirnoperation gehabt habe. Die Behörden haben der Familie weder eine Kopie des Obduktionsberichts noch eine der vorläufigen Untersuchungsergebnisse der Organisation für Rechtsmedizin zukommen lassen.
Die Familie von Mahsa Amini wies die vorläufigen Ergebnisse der Untersuchung durch die Organisation für Rechtsmedizin in Teheran sofort zurück. Ihr Vater nahm in einem Medieninterview noch am gleichen Tag dazu Stellung:
«Sie [die Behörden] erzählen Lügen. Meine Tochter war noch nie wegen einer Krankheit im Krankenhaus.»
In einem früheren Interview, das am 20. September veröffentlicht wurde, hatte er ausserdem Folgendes gesagt:
«Es macht mich traurig, dass die Behörden und Offiziellen jeden Tag Lügen über meine Tochter verbreiten. Sie haben gesagt, dass Mahsa unter einer Herzkrankheit und Epilepsie gelitten hat, aber ich als ihr Vater, der sie 22 Jahre lang aufgezogen hat, ich sage mit lauter Stimme, dass Mahsa keine Krankheiten hatte und kerngesund war ... Als wir zum Krankenhaus kamen, durften wir Mahsa nicht sehen. Sie hatten ihren Kopf und ihren Körper bedeckt, damit wir ihre Verletzungen nicht sehen können. Ich konnte nur das Gesicht meiner Tochter und ihre Fusssohlen sehen ... Schliesslich konnte ich doch ... blaue Flecken sehen ... Die Person, die meine Tochter geschlagen hat, sollte öffentlich ... vor Gericht gestellt werden ... Ich werde nicht zulassen, dass mit dem Tod meiner Tochter so respektlos umgegangen wird.»
Drohungen gegen Familie und Unterstützer*innen
Getreu früherer Strategien des Leugnens, Verdrehens und Vertuschens haben die Behörden versucht, Mahsa Aminis Familie zum Schweigen zu bringen, und gedroht, alle strafrechtlich zu verfolgen, die den offiziellen Behauptungen über ihren Tod widersprechen.
Schon vor Mahsa Aminis Tod, als sie noch im Krankenhaus im Koma lag, setzten die Behörden ihre Familie durch die starke Präsenz von Sicherheitskräften rund um das Krankenhaus unter enormen Druck. In einem Interview, das am 16. September 2022, vor Mahsa Aminis Tod, veröffentlicht wurde, sagte ihre Mutter Folgendes:
«Sie [die Behörden] haben meiner Tochter das angetan ... Sie haben uns gewarnt, dass wir nicht mit den Medien sprechen und still bleiben sollen. Wir sind von Sicherheitskräften umgeben. Sie müssen erklären, warum sie das einer Unschuldigen antun. Das hat sie nicht verdient.»
Nach ihrem Tod drängten die Behörden die Familie von Mahsa Amini, ihren Leichnam schnell nachts zu verbrennen, und warnte sie davor, in der Öffentlichkeit über ihren Tod zu sprechen.
Die Behörden haben auch gewarnt, dass jeder, der der staatlichen Version der Ereignisse rund um ihren Tod widerspricht, strafrechtlich verfolgt wird. Am 18. September 2022 erklärte der stellvertretende Innenminister für Sicherheits- und Strafverfolgungsangelegenheiten im Innenministerium, Majid Mirahmadi, der vom iranischen Innenminister mit der Leitung der Ermittlungen zu ihrem Tod beauftragt wurde, Folgendes: «Jeder, der die psychologische Sicherheit der Gesellschaft stört, Falschnachrichten verbreitet und die öffentliche Wahrnehmung manipuliert, muss sich für seine Behauptungen verantworten, denn alle diese Handlungen sind strafbar.»
Systematische Straflosigkeit bei Todesfällen in Gewahrsam
Das Versäumnis der Behörden, eine unabhängige, unparteiische und transparente Untersuchung des Todes von Mahsa Amini in Polizeigewahrsam durchzuführen, passt zu der sich seit langem abzeichnenden systematischen Straflosigkeit im Iran.
Im September 2021 veröffentlichte Amnesty International die Ergebnisse einer Untersuchung, der zufolge die iranischen Behörden bei mindestens 72 Todesfällen in Haft seit Januar 2010 ihrer Rechenschaftspflicht nicht nachgekommen sind, obwohl glaubwürdige Berichte vorliegen, dass diese durch Folter oder andere Misshandlungen oder den tödlichen Einsatz von Schusswaffen und Tränengas durch Sicherheitskräfte verursacht wurden. Dass bisher niemand für diese Tode zur Rechenschaft gezogen wurde, ist ein weiterer Ausdruck für die seit langem bestehende systematische Straflosigkeit, bei der Vorwürfe von Folter und rechtswidrigen Tötungen durchweg unaufgeklärt und ungestraft bleiben.
Die iranischen Behörden machen für Todesfälle in Polizeigewahrsam meist übereilt Selbstmord, eine Überdosis Drogen oder Erkrankungen wie Schlaganfälle oder Herzinfarkte verantwortlich, ohne unabhängige und transparente Ermittlungen durchzuführen.
Familienangehörige von Menschen, die unter verdächtigen Umständen in Polizeigewahrsam sterben, sind routinemässig verschiedenen Formen von Schikanen und Einschüchterungen durch Geheimdienst- und Sicherheitskräfte ausgesetzt, insbesondere wenn sie öffentlich die Behauptungen der Behörden über die Umstände des Todes ihrer Angehörigen bestreiten oder Rechtsmittel einlegen. Die iranischen Behörden üben nachweislich Druck auf Familien aus, ihre Angehörigen sofort und ohne unabhängige Autopsie zu beerdigen.
Gesetzte zur Zwangsverschleierung verfestigen Gewalt gegen Frauen
Die willkürliche Festnahme von Mahsa Amini und ihr Tod in Polizeigewahrsam erfolgte vor dem Hintergrund zunehmender Schikanierung und gewalttätiger Angriffe, wie sie von der Polizei, paramilitärischen Kräften und Männern aus der Bevölkerung gegen Frauen und Mädchen ausgeübt werden, bei denen einzelne Haarsträhnen unter dem Kopftuch zu sehen sind oder die kurze, bunte Mäntel oder Hosen oder Oberteile mit kurzen Ärmeln tragen.
Wer im Iran als Frau ohne Kopftuch unterwegs ist, riskiert nach dem islamischen Strafgesetzbuch eine Festnahme, Stockhiebe oder eine Haft- bzw. Geldstrafe. Das Gesetz gilt schon für Mädchen ab neun Jahren, dem Mindestalter für die Strafmündigkeit im Iran. In der Praxis schreiben die Behörden die Verschleierung von Mädchen ab dem siebten Lebensjahr vor, sobald sie in die Grundschule kommen.
Zehntausende Frauen und Mädchen im Iran werden regelmässig auf der Strasse willkürlich von der «Sittenpolizei» angehalten, beleidigt und bedroht und angewiesen, ihre Kopftücher weiter ins Gesicht zu ziehen, um Haarsträhnen zu verdecken, oder sich mit einem ausgehändigten Tuch ihr Make-up abzuwischen. Häufig kommt es dabei zu physischen Angriffen, und sie werden ins Gesicht geschlagen, erhalten Stockschläge, werden in Handschellen gelegt und zu mehreren in Polizeiwagen gezwängt. Diese Handlungen stellen eine grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe dar, die nach dem Völkerrecht, darunter auch dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, zu dessen Vertragsstaaten der Iran gehört, verboten ist.
Doch iranische Frauen müssen nicht nur die Kontrolle durch Angehörige der Staatsgewalt über sich ergehen lassen. Das diskriminierende und entwürdigende Verschleierungsgesetz hat dazu geführt, dass sich auch Männer aus der Gesellschaft dazu berufen fühlen, die Werte der Islamischen Republik durchzusetzen, indem sie Frauen in der Öffentlichkeit schikanieren und angreifen. So werden Frauen und Mädchen tagtäglich von Unbekannten, die sie als «Huren» beschimpfen und sie zwingen, ihr Kopftuch zurechtzurücken, willkürlich geschlagen und mit Pfefferspray angegriffen.
Die Nötigung zur Einhaltung traditioneller, kultureller oder religiöser Bekleidungsvorschriften von staatlicher oder privater Seite verstösst gegen die Rechte von Frauen auf freie Meinungsäusserung, Religions- und Glaubensfreiheit und das Recht auf Privatsphäre. Frauen und Mädchen sollten frei entscheiden können, ob sie aufgrund persönlicher religiöser Überzeugungen, kultureller Bräuche oder aus anderen Gründen bestimmte Symbole oder Kleidungsstücke tragen wollen oder nicht.
Hintergrund
Der Tod von Mahsa Amini am 16. September 2022 löste im Iran landesweite Proteste aus. Sicherheitskräfte haben auf die Proteste mit rechtswidriger Gewalt reagiert und unter anderem scharfe Munition, Schrotkugeln und andere Metallgeschosse eingesetzt, wodurch Dutzende Personen getötet und Hunderte weiterer verletzt wurden. Amnesty International geht davon aus, dass die tatsächliche Zahl der Todesopfer höher ist und stellt aktuell weitere Recherchen an. Geheimdienst- und Sicherheitskräfte haben Hunderte von Personen, unter ihnen Protestierende und Umstehende, gewaltsam festgenommen. Die Behörden haben die Proteste auch dazu missbraucht, um repressiv gegen die Zivilgesellschaft vorzugehen und zahlreiche Journalist*innen, zivilgesellschaftliche Aktivist*innen, Anwält*innen und andere Menschenrechtsverteidiger*innen, darunter Frauenrechtler*innen und Angehörige ethnischer Minderheiten, festzunehmen.
[1] Im Iran dient der Begriff «Soldat» im Allgemeinen als Bezeichnung für eine Person in Uniform, die zum Militärdienst eingezogen wurde und eine bestimmte Zeit in den Streitkräften dient.
[2] Amnesty International liegt ein Screenshot der Erklärung vor.
[3] UN-Hochkommissariat für Menschenrechte: The Minnesota Protocol on the Investigation of Potentially Unlawful Death, 2017.
[4] Monafeqin (Heuchler*innen) ist ein abwertender Begriff, den die iranischen Behörden für die Volksmudschaheddin (People’s Mojahedin Organization of Iran – PMOI) und ihre Mitglieder und Anhänger*innen verwenden.