Die Menschenrechtsorganisation befürchtet, dass angesichts Tausender Festnahmen und der hohen Zahl bereits erhobener Anklagen noch viele weitere Personen zum Tode verurteilt werden könnten.
Diana Eltahawy, stellvertretende Direktorin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International, sagt: «Die iranischen Behörden müssen unverzüglich alle Todesurteile aufheben, von der Verhängung der Todesstrafe absehen und alle Anklagen gegen diejenigen fallen lassen, die im Zusammenhang mit ihrer friedlichen Teilnahme an den Protesten festgenommen wurden. Die Todesstrafe ist eine grausame, unmenschliche und erniedrigende Strafe, deren Abscheulichkeit durch ein grundlegend unfaires Strafverfahren ohne jegliche Transparenz oder Unabhängigkeit noch verstärkt wird.»
«Die herrschende Straflosigkeit ermöglicht den iranischen Behörden nicht nur weitere Massentötungen, sondern auch eine Verschärfung der Anwendung der Todesstrafe als Mittel der politischen Unterdrückung.» Diana Eltahawy, stellvertretende Direktorin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International
«Zwei Monate nach Beginn der aktuellen Proteste im und drei Jahre nach den Protesten im November 2019 ermöglicht die herrschende Straflosigkeit den iranischen Behörden nicht nur weitere Massentötungen, sondern auch eine Verschärfung der Anwendung der Todesstrafe als Mittel der politischen Unterdrückung. Die Mitgliedsstaaten des Uno-Menschenrechtsrates, der nächste Woche eine Sondersitzung zum Iran abhält, müssen dringend einen Untersuchungs- und Rechenschaftsmechanismus einrichten, um gegen diesen massiven Angriff auf das Recht auf Leben und andere Menschenrechtsverletzungen vorzugehen.»
760‘000 Menschen haben eine internationale Petition von Amnesty International unterschrieben, die sofortige Massnahmen des Uno-Menschenrechtsrates einfordert. Amnesty International ruft zudem alle Regierungen mit Botschaften im Iran auf, unverzüglich hochrangige Beobachter*innen zu allen laufenden Prozessen zu entsenden, bei denen den Angeklagten ein Todesurteil droht. Laut den iranischen Behörden sind diese Prozesse öffentlich.
Drohende Todesurteile nach Protesten
Mohammad Ghobadlou, Saman Seydi (Yasin), Saeed Shirazi, Mohammad Boroughani, Abolfazl Mehri Hossein Hajilou und Mohsen Rezazadeh Gharagholou wird «Feindschaft zu Gott» (moharebeh) und «Verdorbenheit auf Erden» (efsad f’il arz) vorgeworfen. Die sechs Männer wurden an ein Revolutionsgericht in Teheran überstellt, wo ihnen als Gruppe der Prozess gemacht werden soll.
Drei weitere Männer – Sahand Nourmohammad-Zadeh, Mahan Sedarat Madani und Manouchehr Mehman-Navaz – müssen sich in getrennten Verfahren vor verschiedenen Revolutionsgerichten in Teheran verantworten. Ihnen werden verschiedene Straftaten vorgeworfen, die der Anschuldigung «Feindschaft zu Gott» (moharebeh) gleichkommen.
Die genannten Vorwürfe können im Iran mit dem Tod bestraft werden. In acht dieser Fälle werden den Angeklagten jedoch keine schweren Straftaten wie vorsätzliche Tötungen zur Last gelegt. Die Vorwürfe lauten vielmehr auf Vandalismus, Zerstörung von öffentlichem und/oder privatem Eigentum, Brandstiftung und Störung der öffentlichen Ordnung.
Vor einem Revolutionsgericht in Karadsch (Provinz Alborz) müssen sich elf weitere Personen wegen «Verdorbenheit auf Erden» (efsad f’il arz) verantworten. Unter ihnen befindet sich auch der Arzt Hamid Ghare-Hasanlou und seine Frau Farzaneh Ghare-Hasanlou.
Angeklagten wurde das Recht auf einen selbstgewählten Rechtsbeistand verweigert, in anderen Fällen galt die Unschuldsvermutung nicht, oftmals wurde Angeklagten auch das Aussage-verweigerungsrecht nicht zugestanden.
Nach Informationen von Amnesty International wurde auch der 26-jährige Parham Parvari im Zusammenhang mit den Protesten wegen «Feindschaft zu Gott» (moharebeh) angeklagt. Der junge Mann gehört der kurdischen Minderheit im Iran an. Seine Familie gab an, dass er gewaltsam festgenommen wurde, als er auf seinem Heimweg von der Arbeit in Teheran an Protesten vorbeikam.
Unfaire Gerichtsverfahren
Amnesty International dokumentierte in den 21 untersuchten Fällen zahlreiche Verstösse gegen das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren. Angeklagten wurde das Recht auf einen selbstgewählten Rechtsbeistand verweigert, in anderen Fällen galt die Unschuldsvermutung nicht, oftmals wurde Angeklagten auch das Aussageverweigerungsrecht nicht zugestanden. Zudem werden die Betroffenen nicht vor Folter und anderen Misshandlungen geschützt. Sie erhalten keinen uneingeschränkten Zugang zu relevanten Beweismitteln und auch keine faire, öffentliche Anhörung vor einem zuständigen, unabhängigen und unparteiischen Gericht.
Nach dem Völkerrecht verstösst die Verhängung der Todesstrafe nach einem unfairen Verfahren gegen das Recht auf Leben und das absolute Verbot von Folter und anderen Misshandlungen.
In einer Erklärung haben 227 der 290 iranischen Parlamentarier*innen die Justizbehörden aufgefordert, «keine Nachsicht» mit den Demonstrierenden zu üben und dringend Todesurteile gegen sie zu verhängen. So soll anderen eine «Lehre» erteilt werden. Auch der Leiter der Justizbehörden Gholamhossein Mohseni-Ejei forderte rasche Gerichtsverfahren und Bestrafungen, einschliesslich Hinrichtungen.
Hintergrund
Laut einer geleakten Audiodatei, die dem persischsprachigen Dienst der BBC vorliegt, haben die iranischen Behörden in einer ersten Festnahmewelle seit Beginn der Proteste zwischen 15'000 und 16'000 Menschen willkürlich festgenommen. Zu den Betroffenen gehören Demonstrierende, Journalist*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen, Dissident*innen, Studierende und Schüler*innen. Viele von ihnen wurden verschleppt, in Isolationshaft gehalten, gefoltert und anderweitig misshandelt und stehen in unfairen Verfahren vor Gericht.
Am 8. November 2022 gaben die iranischen Justizbehörden bekannt, dass allein im Zusammenhang mit den Protesten in der Provinz Teheran 1024 Anklagen erhoben wurden. Einzelheiten zu den Anschuldigungen nannten sie nicht.