© Amnesty International
© Amnesty International

Iran Sicherheitskräfte foltern inhaftierte Kinder

Medienmitteilung 16. März 2023, London/Bern – Medienkontakt
Geheimdienst und Sicherheitskräfte in Iran foltern inhaftierte Kinder, um die Beteiligung der Jugend an den Massenprotesten zu unterbinden. Amnesty International deckt in einer neuen Recherche abscheuliche Misshandlungen wie Auspeitschungen, Elektroschocks und Vergewaltigungen von nur 12-Jährigen auf.

Sechs Monate nach dem Beginn des beispiellosen Volksaufstandes in Iran, der durch den Tod von Mahsa (Jina) Amini ausgelöst wurde, enthüllt Amnesty International die Gewalt, die Kindern angetan wird, die während und nach den Protesten festgenommen werden. Die Recherche deckt die Foltermethoden auf, die die Revolutionsgarden, die paramilitärischen Basij, die Polizei für öffentliche Sicherheit und andere Sicherheits- und Geheimdienstkräfte gegen inhaftierte Kinder angewandt haben, um sie zu bestrafen und um erzwungene «Geständnisse» zu erlangen.

«Iranische Staatsbeamte haben Kinder aus ihren Familien gerissen und sie unvorstellbaren Grausamkeiten ausgesetzt.» Diana Eltahawy, stellvertretende Regionaldirektorin von Amnesty International für den Nahen Osten und Nordafrika

«Iranische Staatsbeamte haben Kinder aus ihren Familien gerissen und sie unvorstellbaren Grausamkeiten ausgesetzt. Es ist abscheulich, dass Beamte verletzlichen und verängstigten Kindern und ihren Familien solch schwere Schmerzen zufügen und sie mit massiven körperlichen und seelischen Narben zurücklassen. Diese Gewalt gegen Kinder offenbart eine gezielte Strategie: Die Jugend des Landes soll unterdrückt und davon abgehalten werden, Freiheit und Menschenrechte einzufordern», sagte Diana Eltahawy, stellvertretende Regionaldirektorin von Amnesty International für den Nahen Osten und Nordafrika.

«Die Behörden müssen sofort alle Kinder freilassen, die nur wegen ihres friedlichen Protestes inhaftiert worden sind. Es gibt keine Aussicht auf wirksame unparteiische Ermittlungen zur Folterung von Kindern im Iran. Daher fordern wir alle Staaten auf, die universelle Gerichtsbarkeit über iranische Beamte auszuüben, die im begründeten Verdacht stehen, für Verbrechen nach internationalem Recht wie der Folterung von Kindern strafrechtlich verantwortlich zu sein. Auch Personen mit Befehlsgewalt oder höherer Verantwortung müssen zur Rechenschaft gezogen werden.»

Seit Beginn der Ermittlungen von Amnesty International zur brutalen Niederschlagung der Proteste durch die iranischen Behörden hat die Menschenrechtsorganisation die Fälle von sieben Kindern detailliert dokumentiert. Amnesty International erhielt Zeugenaussagen von den Opfern und ihren Familien sowie weitere Aussagen von 19 Augenzeug*innen, darunter zwei Anwält*innen und 17 erwachsene Häftlinge, die zusammen mit Kindern inhaftiert waren. Sie bezeugen die weit verbreiteten Folterungen an zahlreichen Kindern in Iran. Die befragten Opfer und Augenzeugen stammten aus Provinzen in ganz Iran, darunter Ost-Aserbaidschan, Golestan, Kermanschah, Razavi-Chorasan, Chuzestan, Lorestan, Mazandaran, Sistan und Belutschistan, Teheran und Zandschan.

Um die Kinder und ihre Familien vor Repressalien zu schützen, anonymisiert Amnesty International alle Angaben zur Identifizierung der Kinder, wie z. B. ihr Alter und die Provinzen, in denen sie festgehalten wurden.

Masseninhaftierung von Kindern

Die iranischen Behörden haben zugegeben, dass im Zusammenhang mit den Protesten insgesamt mehr als 22‘000 Menschen festgenommen wurden. Genaue Angaben zur Zahl festgenommener Kinder fehlen. Laut staatlichen Medien machten Kinder aber einen erheblichen Teil der Demonstrant*innen aus. Amnesty International schätzt, dass Tausende Kinder unter den Verhafteten gewesen sein könnten. 

Nach den Erkenntnissen von Amnesty International wurden verhaftete Kinder wie Erwachsene zunächst oft mit verbundenen Augen in Haftanstalten gebracht, die von den Revolutionsgarden, dem Geheimdienstministerium, der Polizei für öffentliche Sicherheit, der Ermittlungseinheit der iranischen Polizei (Agahi) oder den paramilitärischen Basij betrieben werden. Nach tage- oder wochenlanger Isolationshaft oder gewaltsamem Verschwindenlassen wurden sie in offizielle Gefängnisse verlegt.

Agenten in Zivil entführten Kinder während oder im Anschluss an Proteste von der Strasse.

Agenten in Zivil entführten Kinder während oder im Anschluss an Proteste von der Strasse, brachten sie an inoffizielle Orte wie in Lagerhäuser, wo sie sie folterten, bevor sie sie an abgelegenen Orten aussetzten. Diese Entführungen erfolgten ohne ordnungsgemässes Verfahren und dienten dazu, Kinder zu bestrafen, einzuschüchtern und von der Teilnahme an den Protesten abzuhalten. 

Viele Kinder wurden entgegen internationalen Standards zusammen mit Erwachsenen inhaftiert und waren denselben Foltermethoden und anderen Misshandlungen ausgesetzt. Ein ehemaliger erwachsener Häftling berichtete Amnesty International, dass Mitglieder der Basij in einer Provinz mehrere Jungen zwangen, sich mit gespreizten Beinen in eine Reihe mit erwachsenen Häftlingen zu stellen, und ihnen Elektroschocks im Genitalbereich verabreichten.

Die meisten der in den letzten sechs Monaten verhafteten Kinder wurden offenbar wieder freigelassen − manchmal gegen Kaution − , bis die Ermittlungen abgeschlossen sind oder ein Gerichtsverfahren eingeleitet wird. Viele wurden erst freigelassen, nachdem sie gezwungen wurden, «Reue»-Schreiben zu unterschreiben und zu versprechen, sich von «politischen Aktivitäten» fernzuhalten und an regierungsfreundlichen Kundgebungen teilzunehmen.

Bevor sie freigelassen wurden, drohten die Staatsbediensteten den Kindern häufig mit einer strafrechtlichen Verfolgung unter Androhung der Todesstrafe oder mit der Verhaftung ihrer Verwandten, falls sie sich beschweren würden.

In mindestens zwei von Amnesty International dokumentierten Fällen reichten die Familien der Opfer trotz der Androhung von Repressalien offizielle Beschwerden bei den Justizbehörden ein, die jedoch nicht untersucht wurden.

Vergewaltigungen und Schläge

Die Dokumentation von Amnesty International zeigt, dass Staatsangestellte sexualisierte Gewalt als Waffe gegen inhaftierte Kinder einsetzten, um ihren Willen zu brechen, sie zu demütigen und zu bestrafen. Kinder wurden vergewaltigt, mit Elektroschocks an den Genitalien traktiert, durch Berühren der Genitalien belästigt oder mit Vergewaltigung oder anderen Formen sexualisierter Gewalt bedroht. Ein Muster, über das auch erwachsene Häftlinge häufig berichten.

Staatliche Bedienstete beschimpften inhaftierte Mädchen mit sexuellen Beleidigungen und warfen ihnen vor, ihren nackten Körper entblössen zu wollen, nur weil sie für die Rechte von Frauen und Mädchen protestierten und sich der Zwangsverschleierung widersetzten.

Eine Mutter berichtete Amnesty International, dass Staatsbeamte ihren Sohn mit einem Schlauch vergewaltigten, während er gewaltsam verschwunden war. Sie sagte: «Mein Sohn erzählte mir: ‚Sie haben mich so aufgehängt, dass ich das Gefühl hatte, meine Arme würden mir gleich abreissen. Ich war gezwungen zu sagen, was sie wollten, weil sie mich mit einem Schlauch vergewaltigten. Sie nahmen meine Hand und zwangen mich, meine Fingerabdrücke auf den Papieren zu hinterlassen.»

Die Sicherheitskräfte schlagen Kinder regelmässig bei der Verhaftung, in Fahrzeugen während des Transports und in Haftanstalten. Zu den weiteren Foltermethoden, von denen berichtet wird, gehören Auspeitschungen, die Verabreichung von Elektroschocks mit Elektroschockern, die erzwungene Verabreichung unbekannter Pillen und das Halten der Köpfe von Kindern unter Wasser.

In einem Fall wurden mehrere Schüler entführt, weil sie die Protestparole «Frau, Leben, Freiheit» an eine Wand geschrieben hatten. Ein Verwandter eines der Opfer berichtete Amnesty International, dass Staatsbedienstete in Zivil die Jungen entführten, sie an einen inoffiziellen Ort brachten, sie folterten und ihnen mit Vergewaltigung drohten und sie dann Stunden später halb bewusstlos in einem abgelegenen Gebiet aussetzten.

Opfer und Familien berichteten Amnesty International, wie staatliche Bedienstete Kinder würgten, sie an ihren Armen oder an um ihren Hals gewickelten Tüchern aufhängten und sie zu erniedrigenden Handlungen zwangen.

Ein Junge erzählte: «Sie sagten uns [mehr als ein Dutzend Personen], wir sollten eine halbe Stunde lang Hühnergeräusche machen − so lange, bis wir 'Eier legten'. Sie zwangen uns, eine Stunde lang Liegestützen zu machen. Ich war das einzige Kind dort. In einem anderen Gefangenenlager steckten sie 30 von uns in einen Käfig, der für fünf Personen gedacht war.»

Erzwungene Geständnisse und Todesdrohungen

Staatliche Bedienstete setzten auch psychologische Folter einschliesslich Todesdrohungen ein, um Kinder zu bestrafen und einzuschüchtern und sie zu erzwungenen «Geständnissen» zu zwingen. Staatliche Medien haben die erzwungenen «Geständnisse» von mindestens zwei Jungen, die während der Proteste festgenommen wurden, übertragen.

Die Mutter eines Mädchens, das von den Revolutionsgarden festgenommen wurde, berichtete Amnesty International: «Sie beschuldigten sie, Kopftücher zu verbrennen, den Obersten Führer zu beleidigen und die Islamische Republik stürzen zu wollen, und sagten ihr, dass sie zum Tode verurteilt werden würde. Sie zwangen sie, Dokumente zu unterschreiben und Fingerabdrücke zu nehmen. Sie hat Albträume und geht nirgendwo mehr hin. Sie kann nicht einmal mehr ihre Schulbücher lesen.»

Zahlreiche Kinder wurden unter grausamen und unmenschlichen Haftbedingungen festgehalten. Darunter fallen extreme Überbelegung, unzureichender Zugang zu Toiletten und Waschgelegenheiten, Mangel an ausreichender Nahrung und Trinkwasser, extreme Kälte und längere Einzelhaft. Mädchen wurden von ausschliesslich männlichen Sicherheitskräften festgehalten, die keine Rücksicht auf ihre geschlechtsspezifischen Bedürfnisse nahmen. Kindern wurde eine angemessene medizinische Versorgung verweigert, auch für Verletzungen, die sie unter der Folter erlitten hatten.