Der Anwalt Salah Hammouri ist seit dem 6. März inhaftiert, obwohl gegen ihn keine Anklage erhoben oder ein Verfahren eingeleitet wurde. Aufgrund einer viermonatige Verwaltungshaftanordnung wurde seine Haft  bis zum 6. Juli 2022 verlängert. © Amnesty International
Der Anwalt Salah Hammouri ist seit dem 6. März inhaftiert, obwohl gegen ihn keine Anklage erhoben oder ein Verfahren eingeleitet wurde. Aufgrund einer viermonatige Verwaltungshaftanordnung wurde seine Haft bis zum 6. Juli 2022 verlängert. © Amnesty International

Israel/besetzte palästinensische Gebiete Administrativhaft: 100 Tage Boykott

11. April 2022
Seit 100 Tagen boykottieren 490 Palästinenser*innen in Administrativhaft die israelischen Militärgerichte. Diese segnen auf Grundlage geheimer Informationen Anträge für monatelange Haftstrafen ab – ohne faires Gerichtsverfahren und ohne konkrete Anklage.

Am 1. Januar 2022 begannen fast alle Palästinenser*innen, die derzeit in Israel in Administrativhaft sitzen, kollektiv die Militärgerichte zu boykottieren. Sie weigern sich, an Militärgerichtsverfahren teilzunehmen, die lediglich dazu dienen würden, die willkürliche Administrativhaft abzusegnen.

Mit dem zivilen Ungehorsam protestieren die Gefangenen gegen die Unterstützung des seit langem bestehenden Systems der Administrativhaft durch die Militärgerichte: Die Administrativhaft ermöglicht es, dass Palästinenser*innen auf Grundlage geheimer Informationen der israelischen Sicherheitsdienste ohne Anklage oder Gerichtsverfahren monate- oder sogar jahrelang festgehalten werden können.

Der Boykott der Palästinenser*innen in Administrativhaft unterstreicht die Notwendigkeit, diese ungerechte Praxis zu beenden, die dazu beiträgt, Israels Apartheidsystem gegen die Palästinenser*innen aufrechtzuerhalten, erklärte Amnesty International am 11. April 2022.

«Palästinensische Menschenrechtsaktivist*innen, Journalist*innen, Akademiker*innen und andere haben unter dieser grausamen und unmenschlichen Praxis gelitten und protestieren seit Jahrzehnten dagegen, unter anderem mit Hungerstreiks. Dieser Boykott ist ein erneuter kollektiver Aufruf gegen die Administrativhaft», sagte Saleh Higazi, stellvertretender Direktor von Amnesty International für den Nahen Osten und Nordafrika.

«Der Boykott macht auf die unmenschliche Behandlung und Bestrafung der Palästinenser*innen durch Israel Aufmerksam.» Saleh Higazi, stellvertretender Direktor von Amnesty International für den Nahen Osten und Nordafrika.

«Der Boykott macht auf die unmenschliche Behandlung und Bestrafung der Palästinenser*innen durch Israel aufmerksam. Die internationale Gemeinschaft, insbesondere Staaten mit engen Beziehungen zu Israel, muss nun konkrete Massnahmen ergreifen und Druck auf Israel ausüben, um die systematische Anwendung willkürlicher Inhaftierungen zu beenden.»

Hintergrund

Seit Jahrzehnten setzt Israel das Instrument der Administrativhaft bewusst ein, um Personen  für ihre Ansichten und ihren Aktivismus zu bestrafen – darunter auch Kinder und Gewissensgefangene, die nur wegen der Ausübung ihres Rechts auf freie Meinungsäusserung, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit im Gefängnis sind.

Nach Angaben der palästinensischen Menschenrechtsgruppe Addameer haben die israelischen Behörden zwischen 2017 und 2021 5728 Anträge für Administrativhaft gegen Palästinenser*innen ausgesprochen, 1695 allein im Jahr 2021. Dies steht im Zusammenhang mit Massenverhaftungen durch israelische Behörden während der Proteste im Mai und Juni 2021.

Das israelische Militär kann Administrativhaftbefehle von bis zu sechs Monaten ausstellen, um Palästinenser*innen in Gewahrsam zu nehmen, wenn es «vernünftige Gründe» dafür gäbe, dass eine Person eine Gefahr für die «Sicherheit des Gebiets» oder die «öffentliche Sicherheit» darstelle.

Die Haftbefehle können auf unbestimmte Zeit verlängert werden, doch müssen die Inhaftierten innerhalb von acht Tagen nach Ausstellung oder Verlängerung eines Haftbefehls einem Militärgericht vorgeführt werden.

Personen in Administrativhaft haben zwar das Recht, gegen jeden Haftbefehl Widerspruch einzulegen, und sie haben Anspruch auf einen Rechtsbeistand ihrer Wahl. Doch werden weder die Anwält*innen noch die betroffenen Personen über die Einzelheiten der vorliegenden Beweise informiert. Ein Militärgericht kann die Anordnung aufrechterhalten, verkürzen oder aufheben. Die Anordnung kann beim Obersten Gerichtshof Israels angefochten werden.

Der Oberste Gerichtshof Israels hat auf die Bedeutung rechtmässiger Prozesse hingewiesen und erklärt, dass die Administrativhaft nur als Präventivmassnahme gegen eine Person eingesetzt werden sollte, die eine Gefahr für die Sicherheit darstellt, die nicht mit anderen Mitteln abgewendet werden kann.

Der Gerichtshof hat jedoch noch keine klaren Regeln für die Überprüfung von Verwaltungshaft eingeführt, stellt selten die Informationen in Frage, auf deren Grundlage Haftanordnungen getroffen werden, und prüft im Allgemeinen nicht die Entscheidungen von Militärrichter*innenn nicht.

Weitere Informationen (in Englisch)