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Verschiedene andere NGOs verwenden den Begriff Apartheid zum Umgang Israels mit Palästinenser*innen. Inwiefern unterscheidet sich der Bericht von Amnesty International?
Amnesty International ist zum Schluss gekommen, dass die israelische Regierung ein Apartheid-System gegen alle Palästinenser*innen unter ihrer Kontrolle durchsetzt – unabhängig davon, ob sie in Israel, den besetzten palästinensischen Gebieten oder als Geflüchtete in anderen Ländern leben. Der Bericht Israel’s Apartheid against Palestinians: Cruel System of Domination and Crime against Humanity zeigt, wie aufeinander folgende israelische Regierungen ein institutionalisiertes System der Unterdrückung und Beherrschung von Palästinenser*innen in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten geschaffen haben und aufrechterhalten.
Der Bericht reiht sich ein in eine wachsende Zahl von Arbeiten palästinensischer, israelischer und internationaler Menschenrechtsorganisationen sowie von Anwält*innen, Schriftsteller*innen und Wissenschaftler*innen. In jüngster Zeit haben die israelischen Menschenrechtsorganisationen Yesh Din und B'Tselem sowie die internationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) Berichte veröffentlicht, die juristischen Definition der Apartheid anwenden, um die systematischen Menschenrechtsverletzungen, denen die Palästinenser*innen ausgesetzt sind, zu beschreiben. Human Rights Watch befand, dass die israelische Regierung die Absicht zeigt, die Vorherrschaft der jüdischen Bürger*innen Israels gegenüber den Palästinenser*innen in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten aufrechtzuerhalten. Yesh Din kam zum selben Schluss, insbesondere was das Westjordanland betrifft. B’Tselem stellt fest, dass Israel sowohl in den besetzten palästinensischen Gebieten wie auch innerhalb der eigenen Grenzen ein Apartheid-System aufrechterhält.
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Warum veröffentlicht Amnesty International diesen Bericht jetzt?
Amnesty International hat im Juli 2017 eine Policy zu Menschenrechtsverletzungen und zur Apartheid erarbeitet, um die Arbeit zur Bekämpfung von systematischer Diskriminierung und Unterdrückung zu verstärken. Dies schuf die Basis für eine detaillierte und einheitliche Untersuchung von potenziellen Apartheid-Situationen. Im Jahr 2017 veröffentlichten wir einen Bericht, in dem wir zu dem Ergebnis kamen, dass die Behandlung der Rohingya-Minderheit durch die Behörden Myanmars der Apartheid gleichkommt.
Die internationale Gemeinschaft vernachlässigte in der Israel-Palästina-Thematik lange Zeit die Menschenrechtsfrage. Palästinenser*innen, deren Rechte durch die israelische Politik systematisch verletzt werden, fordern seit mehr als zwei Jahrzehnten, dass diese Menschenrechtsverletzungen als Apartheid anerkannt werden. In den letzten Jahren hat diese Anerkennung international zugenommen. Dies sind einige der Gründe für unsere Entscheidung, eine Untersuchung des potenziellen Verbrechens der Apartheid in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten durchzuführen.
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Was für einen Unterschied macht es, die Situation «Apartheid» zu nennen?
Apartheid ist sowohl ein Verstoss gegen das Völkerrecht wie auch ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Bei einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist die internationale Gemeinschaft verpflichtet, die Verantwortlichen zur Verantwortung zu ziehen. Ziel des Berichts ist es, das diskriminierende System der Beherrschung und Kontrolle des palästinensischen Volkes in den Fokus zu rücken und damit die Bestrebungen zu verstärken, die Politik und Praktiken aufzudecken, die Palästinenser*innen ein Leben mit gleichen Rechten und in Würde verunmöglichen. Das kann nur erreicht werden, wenn die internationale Gemeinschaft die israelische Regierung und andere beteiligte Parteien zur Verantwortung zieht.
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Auf welche Erkenntnisse stützt sich dieser Bericht?
Amnesty International hat für diesen Bericht von Juli 2017 bis November 2021 Untersuchungen und Recherchen durchgeführt. Die einschlägigen israelischen Gesetze, Verordnungen, Militärverordnungen, Richtlinien der Regierung und Erklärungen von Regierungs- und Militärvertreter*innen wurden eingehend analysiert. Wir haben offizielle und öffentlich zugängliche Dokumente wie Material aus israelischen Parlamentsarchiven, Planungs- und Raumordnungsdokumente und -vorhaben, Regierungshaushalte und israelische Gerichtsurteile geprüft.
Wir haben die jahrzehntelange Dokumentation von Amnesty International über Menschenrechtsverletzungen in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten sowie die Berichte von Uno-Agenturen und Menschenrechtsorganisationen mit den einschlägigen Bestimmungen zu Apartheid im internationalen Recht abgeglichen und analysiert. Für die in dem Bericht vorgestellten Fallstudien führte Amnesty International zwischen Februar 2020 und Juli 2021 Dutzende von Interviews mit Personen aus palästinensischen Gemeinden in Israel und aus den besetzten palästinensischen Gebieten.
Wir konsultierten auch zahlreiche Vertreter*innen palästinensischer, israelischer und internationaler NGOs sowie Uno-Agenturen und darüber hinaus Wissenschaftler*innen, juristische Sachverständige und Anwält*innen. Vor und während unserer Recherchen und der rechtlichen Analyse haben wir uns von externen Expert*innen für internationales Recht beraten lassen. Darüber hinaus haben drei Expert*innen für Apartheid im internationalen Recht unsere schriftliche Argumentation und die Schlussfolgerungen im Berichtsentwurf geprüft.
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Was ist Apartheid?
Apartheid ist ein Verstoss gegen das Völkerrecht, eine schwere Verletzung der Menschenrechte und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne des internationalen Strafrechts. Sie kann sowohl ein System (aus Gesetzen, Politik und Praktiken) als auch ein Verbrechen (bestimmte Taten) sein.
Es ist einfacher, Apartheid als System zu erklären, wenn man sich zuerst die Definitionen der Apartheid als Verbrechen verdeutlicht. Diese sind in der Internationalen Konvention über die Bekämpfung und Bestrafung des Verbrechens der Apartheid (Konvention gegen Apartheid) und im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (Römer Statut) festgehalten.
In diesen Verträgen wird Apartheid als Verbrechen gegen die Menschlichkeit definiert, das verübt wird, wenn eine «unmenschliche» Handlung – im Wesentlichen eine schwere Menschenrechtsverletzung – im Rahmen und zur Aufrechterhaltung eines Systems begangen wird, in dem eine Gruppe eine andere unterdrückt und beherrscht. Zu unmenschlichen Handlungen gehören rechtswidrige Tötungen und schwerwiegende Körperverletzungen, Folter, Zwangsumsiedlungen, Verfolgung und die Verweigerung grundlegender Rechte und Freiheiten.
Die Definitionen im Römer Statut und in der Konvention gegen Apartheid sind nicht identisch. Unser Bericht erläutert detailliert, wie die Elemente der einzelnen Verträge auf die Situation in Israel und in den besetzten palästinensischen Gebieten zutreffen.
Um das Verbrechen der Apartheid zu erkennen, ist es notwendig aufzuzeigen, dass ein System der Unterdrückung und Beherrschung besteht. Basierend auf der Interpretation von Rechtsexpert*innen versteht Amnesty International darunter die systematische, anhaltende und grausame diskriminierende Behandlung einer Gruppe durch eine andere, die mit dem Ziel erfolgt, die erstgenannte Gruppe zu kontrollieren.
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Wo wird im internationalen Recht Apartheid erwähnt?
Das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (ICERD) war das erste internationale Menschenrechtsinstrument, das die Apartheid verbot. Es enthält keine explizite Definition der Apartheid, verurteilt aber «auf rassische Überlegenheit oder auf Rassenhass gegründete Apartheids-, Segregations- oder sonstige Rassentrennungspolitik einiger Regierungen».
Das völkerrechtliche Verbot der Apartheid findet sich am besten in einem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zur Präsenz Südafrikas in Namibia, in dem der Verstoss definiert wird als «… Unterscheidungen, Ausschluss und Einschränkungen, die ausschliesslich aufgrund von Race, Hautfarbe, Abstammung oder nationaler oder ethnischer Herkunft beruhen und eine Verwehrung grundlegender Menschenrechte bedeuten.»
Bei der Anwendung dieser Definitionen in unserem Bericht, berücksichtigten wir auch Verweise im internationalen Strafrecht auf Regime oder Systeme der Unterdrückung und Beherrschung. Gemäss Menschen- und Völkerrecht ist es Staaten untersagt, Systeme der Unterdrückung und Beherrschung einer Gruppe über eine andere zu errichten und aufrechtzuerhalten.
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Ist Amnesty zum Schluss gekommen, dass auch andere Staaten das Verbrechen der Apartheid begehen?
Ja. Im Jahr 2017 veröffentlichte Amnesty einen Bericht, in dem wir zu dem Ergebnis kamen, dass die Behandlung der Rohingya-Minderheit durch die Behörden Myanmars der Apartheid gleichkommt.
Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass Systeme der Unterdrückung und Beherrschung niemals identisch sind, und unser Bericht zielt nicht darauf ab, die Behandlung der Palästinenser*innen und der Rohingya zu vergleichen.
Das gleiche gilt auch für Südafrika, auch wenn der Begriff Apartheid im Zusammenhang mit dem dortigen System von der internationalen Gemeinschaft erstmals verwendet wurde. Die Konventionen und Verträge, die Apartheid verurteilen, verbieten und unter Strafe stellen, sind allgemein formuliert. Unser Bericht behauptet nicht, dass das israelische Apartheid-System gleich sei, wie die Situation in Südafrika zwischen 1948 und Mitte der 1990er-Jahre oder damit vergleichbar sei; unser Bericht analysiert die systematische Diskriminierung von Palästinenser*innen durch Israel als Verstoss gegen das Verbot von Apartheid gemäss Völkerrecht.
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Warum bezeichnet Amnesty Jüd*innen und Palästinenser*innen als rassifizierte «Gruppen»?
Nicht Amnesty entscheidet, was eine rassifizierte Gruppe ausmacht. Unsere Analyse im Bericht basiert darauf, wie der Begriff «Gruppe» im Rahmen des internationalen Rechts zu Apartheid verwendet wird: als subjektives Konzept, das auf der Wahrnehmung der «anderen Gruppe» durch die dominante Gruppe basiert. In einem Apartheid-System wird die dominierte Gruppe aufgrund bestimmter physischer oder kultureller Merkmale anders und als unterlegen behandelt.
Jüdische Israelis und Palästinenser*innen identifizieren sich selbst als verschiedene Gruppen. Wie unser Bericht zeigt, betrachtet das israelische Recht Palästinenser*innen als unterlegene Gruppe, definiert durch ihren nicht-jüdischen, arabischen Status. Dies wurde im Jahr 2018 mittels Nationalstaatsgesetz verankert. Dieses erklärte Israel zum «Nationalstaat des jüdischen Volkes» und dass «das Recht auf Selbstbestimmung im israelischen Staat exklusiv dem jüdischen Volk» zusteht. Dieses Gesetz anerkennt keine andere nationale Identität, obwohl Palästinenser*innen 19 % der Bevölkerung in Israel ausmachen. Das israelische Gesetz schafft damit einen überlegenen Status «jüdischer Nationalität», der sich von der Staatsangehörigkeit unterscheidet.
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Inwiefern kommt die Behandlung der Palästinenser*innen durch Israel der Apartheid gleich?
Seit der Gründung 1948 verfolgt Israels Politik und Gesetzgebung ein übergreifendes Ziel: Die Aufrechterhaltung einer demografischen jüdischen Mehrheit und die Maximierung jüdisch-israelischer Kontrolle über das Land auf Kosten der Palästinenser*innen.
Um dies zu erreichen, haben die nachfolgenden Regierungen vorsätzlich ein System der Unterdrückung und Beherrschung der Palästinenser*innen durchgesetzt. Die Schlüsselelemente dieses Systems sind territoriale Zersplitterung, Segregation und Kontrolle, Enteignung von Land und Eigentum und der Entzug von wirtschaftlichen und sozialen Rechten.
Einige Beispiele, wie dieses System praktisch umgesetzt wird:
- Gravierende Beschränkung der Bewegungsfreiheit im besetzten Westjordanland durch Checkpoints und Strassensperren. Kombiniert mit einem rigiden Genehmigungssystem bedeutet dies, dass Palästinenser*innen, die in andere Regionen der besetzten palästinensischen Gebiete reisen möchten, beim israelischen Militär eine Genehmigung einholen müssen.
- Jüdische Bürger*innen Israels erhalten einen privilegierten Nationalitätsstatus. Dieser unterscheidet sich von der Staatsbürgerschaft und ist Grundlage für die unterschiedliche Behandlung von jüdischen und nicht-jüdischen Bürger*innen. Palästinenser*innen wird dieser Nationalitätsstatus verweigert.
- Die systematische Verweigerung von Baugenehmigungen für Palästinenser*innen in Ostjerusalem führt zu wiederholten Hauszerstörungen und Zwangsräumungen. Die Ausbreitung von illegalen israelischen Siedlungen in Ostjerusalem zwingt Palästinenser*innen, ihre Häuser zu verlassen, und beschränkt den Wohnraum der palästinensischen Bevölkerung auf immer kleinere Enklaven.
- Die Weigerung, das völkerrechtlich geschützte Recht geflüchteter Palästinenser*innen auf Rückkehr anzuerkennen. Israel hindert vertriebene palästinensische Familien daran, in ihre früheren Dörfer oder Häuser in Israel oder den besetzten palästinensischen Gebieten zurückzukehren. Dies mit dem Ziel, die Kontrolle über die Bevölkerungsentwickung zu behalten.
- Einschränkungen im Zugang zu Land und Fischereigebieten im Gazastreifen, welche die sozioökonomischen Auswirkungen von Israels illegaler Blockade verschärfen.
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In der Konvention gegen Apartheid ist eines der Kriterien «unmenschliche Handlungen». Welcher unmenschlichen Handlungen hat sich Israel schuldig gemacht?
Die israelischen Behörden setzen Palästinenser*innen systematisch vielen Handlungen aus, die in der Konvention gegen Apartheid und dem Römer Statut unmenschlich genannt werden.
Für diesen Bericht untersuchte Amnesty International Zwangsumsiedlungen, willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen, Folter, rechtswidrige Tötungen und schwere Verletzungen, die Verweigerung grundlegender Rechte und Freiheiten und die Verfolgung der palästinensischen Bevölkerung in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten in Verbindung mit diskriminierenden Gesetzen, Politik und Praktiken.
Wir sind zum Schluss gekommen, dass diese dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Form von Apartheid gleichkommen, weil sie in einem Kontext von systematischer Unterdrückung und Beherrschung stattfinden und mit dem Ziel begangen werden, dieses aufrechtzuerhalten.
Beispielsweise greift Israel in den besetzten palästinensischen Gebieten regelmässig auf tödliche Gewalt zurück, um Proteste von Palästinenser*innen für ihre Rechte zu unterdrücken. Während der «Marsch der Rückkehr»-Proteste, die 2018/19 an der Grenze zwischen Israel und Gaza gegen die Blockade und für das Recht auf Rückkehr von palästinensischen Geflüchteten stattfanden, töteten die israelischen Streitkräfte 214 Zivilist*innen, davon 46 Kinder. Mehr als 8000 Menschen wurden verletzt.
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Sind auch Israels palästinensische Bürger*innen Israels unmenschlichen Handlungen ausgesetzt?
Amnesty International anerkennt, dass unmenschliche Handlungen innerhalb Israels in einem geringeren Ausmass und auf weit weniger gewalttätige Weise stattfinden als in den besetzten palästinensischen Gebieten. Dennoch gibt es Verstösse innerhalb Israels, die auf unmenschliche Handlungen hinauslaufen, wie unser Bericht aufzeigt. Sie kommen im Kontext des Systems von Beherrschung und Unterdrückung von Palästinenser*innen Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Apartheid gleich.
Zum Beispiel haben israelische Behörden in der Negev-/Naqab-Region wiederholt Häuser zerstört und palästinensische Beduin*innen vertrieben, was einer Zwangsumsiedlung gleichkommt.
Gemäss der Konvention gegen Apartheid und dem Römer Statut können unmenschliche Handlungen sowohl gewalttätig als auch gewaltlos sein. So werden in der Konvention gegen Apartheid alle Massnahmen als unmenschliche Handlungen aufgeführt, die geeignet sind, einer Gruppe die Teilnahme am politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben des Landes zu verwehren, sowie die vorsätzliche Schaffung von Bedingungen, welche die volle Entwicklung einer solchen Gruppe verhindern, insbesondere dadurch, dass den Angehörigen einer Gruppe grundlegende Menschenrechte und Freiheiten wie das Recht auf Arbeit, das Recht auf gewerkschaftliche Organisation, das Recht auf Bildung, das Recht, das Land zu verlassen und dahin zurückzukehren, das Recht auf Staatsangehörigkeit, das Recht auf Bewegungsfreiheit und Aufenthalt, das Recht auf Meinungs- und Redefreiheit und das Recht auf Versammlungsfreiheit verweigert werden.
Einige der unmenschlichen Handlungen, die in Israel dokumentiert wurden, beinhalten:
- Die Verweigerung des Rechts palästinensischer Geflüchteter, in ihre Dörfer oder Häuser zurückzukehren.
- Die Verweigerung des Rechts sowohl palästinensischer Geflüchteter wie auch sogenannter «anwesender Abwesender», ihre Häuser, ihr Land und ihr Eigentum wiederzuerlangen.
- Eine staatlich sanktionierte rassistische Verwaltung von öffentlichem Grund und Boden, die Palästinenser*innen von der Verpachtung, dem Zugang, der Erschliessung oder dem Besitz des überwiegenden Teils von öffentlichem Land sowie von Wohnraum ausschliesst.
- Diskriminierende Restriktionen bei der Familienzusammenführung, dem Recht auf Ehe sowie von Aufenthaltsrechten.
Unser Bericht befasst sich mit der rechtlichen Grundlage vieler dieser unmenschlichen Handlungen und mit dem Versagen der israelischen Gerichte, Rechtsmittel zur Beendigung dieser Verstösse zu schaffen.
Für ein Verständnis des israelischen Systems der Unterdrückung und Beherrschung der Palästinenser*innen ist der Blick auf den diskriminierenden Umgang mit israelischen Palästinenser*innen von entscheidender Bedeutung. Das Verbrechen der Apartheid setzt nicht voraus, dass alle Mitglieder einer Gruppe ständig unmenschlichen Handlungen ausgesetzt sind; wesentlich ist, dass diese Handlungen im Rahmen eines grösseren Systems stattfinden.
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Palästinensische Bürger*innen Israels haben viel mehr Rechte als die Palästinenser*innen in den besetzten palästinensischen Gebieten. Wie können Sie behaupten, dass sie unter demselben System leben?
Unser Bericht bestätigt diese Unterschiede. Aber auch wenn es palästinensische Bürger*innen Israels gibt, die im Parlament oder in der Regierung vertreten sind, oder die bessere berufliche Chancen haben, stellen wir dennoch fest, dass auch Palästinenser*innen, die in Israel leben, vom System der Unterdrückung und Beherrschung betroffen sind. Beispiele solch systematischer Diskriminierung finden sich in der Antwort zur obigen Frage.
Dabei ist auch wichtig anzuerkennen, dass die geografische Zersplitterung des palästinensischen Volkes an sich ein grundlegendes Element des Apartheid-Systems ist. In Israel, Ostjerusalem, dem besetzten Westjordanland und dem Gazastreifen sowie mit Blick auf palästinensische Geflüchtete und deren Nachkommen unterhält Israel miteinander verbundene Verwaltungs- und Rechtssysteme zur Kontrolle der Palästinenser*innen. Nur wenn diese Bereiche zusammen betrachtet werden, zeigt sich das Gesamtbild.
Die unterschiedliche Behandlung der jüdischen und der palästinensischen Bevölkerung durch die israelische Regierung ist nicht an territoriale Grenzen gebunden. So gibt es beispielsweise jüdische Bürger*innen, die in illegalen Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten leben und die die vollen Rechte israelischer Staatsangehöriger geniessen, während Palästinenser*innen in diesen Gebieten grundlegende Menschenrechte vorenthalten werden.
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Gelten Ihre Erkenntnisse auch für Palästinenser*innen, die heute Staatsangehörige der Länder sind, in die sie einmal flüchteten?
Ja. Israel verweigert palästinensischen Geflüchteten ausserhalb von Israel und der besetzten palästinensischen Gebiete das Recht auf die israelische Staatsbürgerschaft und hindert sie an der Rückkehr in ihre Heimat. Dies ist eine schwerwiegende Verletzung ihres Rechts, ihr Land zu verlassen und dorthin zurückzukehren, des Rechts auf eine Staatsangehörigkeit und des Rechts auf Bewegungs- und Aufenthaltsfreiheit. Der Ausschluss von palästinensischen Geflüchteten ist entscheidend für Israels demografische Ziele.
Wenn sie in der Absicht geschehen, die palästinensische Bevölkerung zu kontrollieren, tragen diese Rechtsverletzungen zur Aufrechterhaltung eines Systems der Unterdrückung und Beherrschung bei und entsprechen unmenschlichen Handlungen, die den Kriterien für Apartheid entsprechen.
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Wie kommen Sie zum Schluss, dass Israel im besetzten Westjordanland und im Gazastreifen ein Apartheidsystem aufrechterhält, obwohl die Palästinenser*innen dort von palästinensischen Behörden verwaltet werden?
Die von der Fatah geführten palästinensischen Behörden im Westjordanland und die de facto-Verwaltung der Hamas im Gazastreifen arbeiten unter den Bedingungen der militärischen Besatzung durch Israel. Die israelischen Behörden üben eine wirksame Kontrolle über diese Gebiete und die Bevölkerung aus; sie kontrollieren die natürlichen Ressourcen und – mit Ausnahme von der südlichen Grenze des Gazastreifens zu Ägypten – die Land- und Seegrenzen sowie den Luftraum. In einigen Gebieten des Westjordanlands und des Gazastreifens sind die palästinensischen Befugnisse sehr eingeschränkt – zum Beispiel in und um israelische Siedlungen oder dort, wo Checkpoints die Bewegungsfreiheit einschränken.
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Verurteilt Amnesty International auch die Menschenrechtsverletzungen der palästinensischen Behörden?
Ja. Auch wenn dies nicht Gegenstand des Berichts ist, hat Amnesty International immer wieder schwere Menschenrechtsverletzungen durch die palästinensischen Behörden im Westjordanland und im Gazastreifen dokumentiert. Wir berichten regelmässig über rechtswidrige Angriffe palästinensischer bewaffneter Gruppen auf israelische Zivilist*innen und verurteilen diese. Dazu gehört auch der wahllose Abschuss von Raketen aus dem Gazastreifen auf Israel. Wir haben den Internationalen Strafgerichtshof aufgefordert, dies als Kriegsverbrechen zu untersuchen.
Wir haben auch Menschenrechtsverletzungen an Palästinenser*innen durch die palästinensischen Behörden dokumentiert, darunter Folter, willkürliche Inhaftierungen, Einschränkungen der Meinungsfreiheit und exzessive Gewaltanwendung gegen Demonstrierende.
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Unterstützer*innen der israelischen Regierung haben Amnesty International vorgeworfen, Israel kritischer zu behandeln als andere. Was ist Ihre Antwort auf diesen Vorwurf?
Amnesty International dokumentiert Menschenrechtsverletzungen durch Regierungen auf der ganzen Welt auch die der palästinensischen Behörden. Wir halten uns in allen Berichten zu Menschenrechtssituation an die gleichen Standards und Richtlinien. Ein Blick auf unsere Webseite zum Nahen Osten und Nordafrika zeigt die Aufmerksamkeit, die wir Menschenrechtsverletzungen in der Region schenken.
Vielen Staaten wäre es lieber, wenn ihre Menschenrechtsverletzungen nicht an die Öffentlichkeit gelangen würden. Unserer Erfahrung nach ist es üblich, dass Staaten versuchen, die Aufmerksamkeit von unseren Ergebnissen abzulenken, indem sie uns Befangenheit vorwerfen, vor allem, wenn sie keine substanzielle Antwort auf die Beweise für Verstösse haben.
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Hat Israel diese Massnahmen nicht ergriffen, um das Land vor Bedrohungen zu schützen?
Wie jedes Land hat auch Israel das Recht – und nach internationalem Recht sogar die Pflicht – alle Menschen unter seiner Kontrolle zu schützen und die Sicherheit seines Territoriums zu gewährleisten. Sicherheitsrelevante Massnahmen müssen jedoch im Einklang mit dem internationalen Recht und in einem angemessenen Verhältnis zur Bedrohung stehen.
Die israelischen Behörden rechtfertigen viele ihrer in dem Bericht beschriebenen Massnahmen mit Sicherheitsaspekten, darunter das Konfiszieren von Land, die Verweigerung von Planungs- und Baugenehmigungen, den Entzug von Aufenthaltsgenehmigungen, die Einschränkung der Bewegungsfreiheit und diskriminierende Gesetze zur Familienzusammenführung. Amnesty International hat die von Israel angeführten Sicherheitsgründe untersucht und kommt zu dem Schluss, dass Sicherheitsbedenken oft als Vorwand für Massnahmen dienen, deren Absicht es ist, die palästinensische Bevölkerung zu kontrollieren und ihre Ressourcen auszubeuten.
So kann beispielsweise die anhaltende und diskriminierende Verweigerung des Zugangs zu Land und zu beschlagnahmtem Eigentum nicht mit Sicherheitsargumenten rechtfertigt werden. Es gibt keine Sicherheitsgrundlage, die die Segregation durch diskriminierende Planungs- und Wohnungsbaugesetze rechtfertigt. Oder für die Verweigerung des Rechts, Eigentum und Häuser zurückzuerhalten, die wegen rassistischer Gesetze beschlagnahmt wurden. Auch darf ohne den Beweis einer tatsächlichen Bedrohung die Sicherheit nicht zur Rechtfertigung für willkürliche und diskriminierende Einschränkungen der Aufenthaltsrechte von Ehepartner*innen und Kindern palästinensischer Staatsangehörigen herangezogen werden.
Bei der Besetzung des Westjordanlands und des Gazastreifens sind möglicherweise nach humanitärem Völkerrecht gewisse Menschenrechtseinschränkungen zulässig, wenn nach Treu und Glauben gehandelt wird. Hingegen kann die unterschiedliche Behandlung weder die Ansiedlung jüdischer Bürger*innen Israels in den besetzten Gebieten rechtfertigen, noch die gezielten Tötungen, die Folter, Deportationen und Zwangsumsiedlungen, die über Jahre in den besetzten palästinensischen Gebieten verübt wurden.
Israel hält sicherheitsrelevante Informationen geheim, was oft bedeutet, dass Personen, deren Rechte im Namen der Sicherheit verletzt werden, keine echte Möglichkeit haben, diese Rechtsverletzungen anzufechten.
Der Report listet zahlreiche Beispiele auf, wo die klare und unrechtmässige Absicht, zu unterdrücken und zu beherrschen gegenüber echten Sicherheitsbedenken überwiegt.
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Amnesty International fordert die Abschaffung des durch die israelische Regierung eingerichteten Apartheid-Systems. Heisst das, dass damit auch der Staat Israel abgeschafft werden soll?
Nein. Amnesty International konzentriert sich auf Menschenrechtsverletzungen durch Staaten, nicht auf die Legitimität von Regierungen oder Staaten. Zum Beispiel fordern wir gemäss unserer Policy nie einen «Regimewechsel», stattdessen stellen wir Empfehlungen zur Verfügung, wie Regierungen ihre Handlungen mit dem Völkerrecht in Einklang bringen können.
Amnesty International anerkennt, dass sowohl das jüdische als auch das palästinensische Volk das Recht auf Selbstbestimmung beanspruchen.
Zusätzlich enthält der Bericht eine Reihe von Empfehlungen an den Staat Israel; wir ersuchten vergeblich um Treffen mit Regierungsvertreter*innen, um diese zu diskutieren. Seit seiner Gründung 1948 ist der israelische Staat Mitglied der Uno. Er hat Menschenrechtskonventionen und andere Verträge ratifiziert und muss sich demzufolge an die darin enthaltenen Verpflichtungen halten, unter anderem auch an das Recht auf Gleichheit und Nichtdiskriminierung, und er muss die Verstösse gegen das Völkerrecht beenden und beseitigen.
Der Bericht ist ein Aufruf an die israelische Regierung, die notwendigen Massnahmen zu ergreifen, damit Israel seinen Verpflichtungen gemäss Völkerrecht nachkommt. Als Beispiel sei erwähnt, dass das internationale Recht Israel nicht verbietet, die jüdische Einwanderung zu fördern. Doch darf dies nicht mit der Diskriminierung von Palästinenser*innen einhergehen, die ihr Recht auf Rückkehr geltend machen, oder anderweitig zur Unterdrückung und Beherrschung der Palästinenser*innen beitragen.
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Setzt sich Amnesty International mit der Forderung nach Abschaffung des israelischen Apartheid-Systems für eine Einstaatenlösung ein?
Dies ist eine politische Frage, und als solche nimmt Amnesty International weder zu diesem Thema noch zu einer Zweistaatenlösung, einer Konföderation oder anderen möglichen Vereinbarungen Stellung.
Unsere einzige Forderung an eine politische Lösung besteht darin, dass sie auf der Achtung des internationalen Rechts, inklusive der Menschenrechte, dem humanitären Recht und dem internationalem Strafrecht beruht.
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Warum ruft Amnesty International zu Sanktionen auf?
Amnesty International fordert den Uno-Sicherheitsrat auf, gezielte Sanktionen wie Reiseverbote und das Einfrieren von Vermögenswerten gegen diejenigen israelischen Regierungsvertreter*innen zu verhängen, die am stärksten in der Verantwortung stehen für das System der Apartheid. Auch soll ein umfassendes Waffenembargo gegen Israel erlassen werden. Damit soll Israel daran gehindert werden, Kriegsverbrechen und andere schwere Menschenrechtsverletzungen zu begehen.
Wir fordern weder weitreichende Wirtschaftssanktionen noch Sanktionen, die nicht zielgerichtet sind. Ein Waffenembargo sollte sich auf die Lieferung, den Verkauf oder die Weitergabe aller Waffen, Munition und Sicherheitsausrüstungen einschliesslich Ausbildung erstrecken. Wir haben in der Vergangenheit gleichlautende Forderungen für andere Länder gestellt, darunter Syrien, Libyen, Sudan, Myanmar und Nepal.
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Israel ist weder dem Römer Statut noch der Konvention gegen Apartheid beigetreten. Ist Israel dennoch an die Verpflichtungen aus dem Römer Statut und der Konvention gegen Apartheid gebunden?
Nein. Erstens hat Israel das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (ICERD) ratifiziert, das Apartheid verbietet. Zweitens gehört das Apartheidverbot zum Völkergewohnheitsrecht, das heisst, es ist Teil der internationalen Verpflichtungen, die aus der als Gesetz akzeptierten Staatenpraxis hervorgehen. Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat erklärt, dass die Apartheid eine «flagrante Verletzung der Ziele und Grundsätze der [Uno-]Charta» darstellt.
Amnesty International ist ausserdem der Ansicht, dass es deutliche Anzeichen dafür gibt, dass die Definition von Apartheid als Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Römer Statut dem Völkergewohnheitsrecht entspricht.
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Was sollte der Internationale Strafgerichtshof tun?
Der Internationale Strafgerichtshof (ICC) ist seit Juni 2014 für die in den besetzten palästinensischen Gebiete begangenen Verbrechen zuständig. Im März 2021 gab die Anklagebehörde des ICC bekannt, dass sie eine Untersuchung der Lage in Palästina eingeleitet hat, die sich auf den Gazastreifen und das Westjordanland, einschliesslich Ostjerusalem, erstreckt.
Da in diesen Gebieten ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Form von Apartheid begangen wird, fordern wir die Anklagebehörde auf, dieses Verbrechen in die Ermittlungen aufzunehmen.