Grosse Teile der Zivilbevölkerung in Gaza wurden mehrfach vertrieben. Die Menschen, die sich im Stich gelassen fühlen und dagegen protestieren, riskieren Repressalien durch die Hamas. © Omar al-Qattaa/AFP via Getty Images
Grosse Teile der Zivilbevölkerung in Gaza wurden mehrfach vertrieben. Die Menschen, die sich im Stich gelassen fühlen und dagegen protestieren, riskieren Repressalien durch die Hamas. © Omar al-Qattaa/AFP via Getty Images

Gaza Repression und Unterdrückung von Protest durch die Hamas

Medienmitteilung 27. Mai 2025, London/Bern – Medienkontakt
Die Hamas-Behörden im besetzten Gazastreifen müssen das Recht auf friedliche Versammlung und freie Meinungsäusserung respektieren und die anhaltende Repression gegen Protestierende beenden, fordert Amnesty International. In den vergangenen zwei Monaten hat die Menschenrechtsorganisation ein alarmierendes Muster von Drohungen und Gewalt gegen Demonstrant*innen dokumentiert.

Sicherheitskräfte der Hamas haben Personen in Gaza, die ihr Recht auf friedlichen Protest wahrnahmen, geschlagen, bedroht und verhört – und dies inmitten des anhaltenden Völkermords, der jüngsten Eskalation der israelischen Militäroffensive und der Ausweitung der Massenvertreibungen. 

Seit dem 25. März haben die Bewohner*innen von Beit Lahia, einer Stadt im nördlichen Gazastreifen, mehrere Demonstrationen organisiert, um ein Ende des Genozids und der unrechtmässigen Vertreibung zu fordern. Diese Proteste haben Hunderte, wenn nicht Tausende von Palästinenser*innen angezogen. Die Demonstrant*innen skandierten Slogans und hielten Schilder in die Höhe, auf denen sie die von der Hamas geführten Behörden im Gazastreifen kritisierten, wobei einige ein Ende der Hamas-Herrschaft forderten. Kleinere Proteste fanden auch im Flüchtlingslager Jabalia, in Shuja'iya und in Khan Younis statt, wo die Demonstrant*innen ebenfalls Parolen gegen bestimmte Hamas-Führer skandierten. 

«Die Hamas-Behörden müssen unverzüglich alle Repressalien gegen Palästinenser*innen einstellen, die mutig und offen ihren Widerstand gegen die Praktiken der Hamas in Gaza zum Ausdruck bringen. Berichte über Schläge, Drohungen und Verhöre sind äusserst alarmierend und stellen eine schwerwiegende Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäusserung und friedliche Versammlung dar», sagte Erika Guevara-Rosas, Direktorin für Recherche, Advocacy, Politik und Kampagnen bei Amnesty International.

«Die Bevölkerung im Gazastreifen protestiert gegen die verheerenden Auswirkungen des anhaltenden Völkermords und der Vertreibung Israels sowie gegen das Versagen der Behörden in Gaza, sie davor zu schützen. Es ist beschämend, dass die Hamas-Behörden das Leiden der Palästinenser*innen weiter verschärfen, nur weil die Menschen sagen: ‚Wir wollen leben!‘ Sie haben das Recht, die Behörden zu kritisieren, ohne gewalttätige Repressalien zu befürchten.»

Amnesty International befragte 12 Personen – 10 Männer und zwei Frauen –, die entweder an Protesten teilnahmen oder sie organisierten, sowie Familienmitglieder von drei weiteren Demonstrierenden, die sagten, ihre Verwandten seien bedroht worden, als sie weiter protestieren wollten. Die Befragten schilderten Vorfälle, bei denen Demonstrant*innen ohne Einhaltung formaler Verfahren zum Verhör vorgeladen, mit Stöcken geschlagen und in einigen Fällen bedroht wurden, erschossen zu werden.

Ein Bewohner von al-Atatra in Beit Lahia, der Teile seiner Familie bei einem israelischen Luftangriff im vergangenen Jahr verloren hatte, berichtete Amnesty International:

«Die Menschen protestieren, weil sie nicht mehr leben können, weil sie Veränderung wollen... Die Sicherheits-kräfte kamen, bedrohten und schlugen uns und beschuldigten uns, Verräter zu sein, nur weil wir unsere Stimme erhoben.» Bewohner von al-Atatra

«Wir haben ein Recht auf ein Leben in Würde. Wir haben mit der Demonstration begonnen, weil wir eine Lösung für unser Leiden wollen. Niemand hat uns angestiftet oder uns gesagt, wir sollen protestieren. Die Menschen protestieren, weil sie nicht mehr leben können, weil sie Veränderung wollen... Die Sicherheitskräfte kamen, bedrohten und schlugen uns und beschuldigten uns, Verräter zu sein, nur weil wir unsere Stimme erhoben. Wir werden weiter protestieren, egal wie gross das Risiko ist.»

Er schilderte, wie er nach einem Protest am 16. April zusammen mit mehreren anderen Personen aus dem Viertel al-Atatra, in dem er lebt, von Mitgliedern der Hamas-Sicherheitsdienste zum Verhör vorgeladen wurde. Er sagte, dass er und die anderen in ein Gebäude in Mashrou' Beit Lahia gebracht wurden, das zu einem behelfsmässigen Haftzentrum umfunktioniert worden war. Dort seien rund 50 bewaffnete Männer in Zivil gestanden, die sie geschlagen hätten:

«Ich wurde auf den Nacken, auf den Rücken und mit Holzstöcken auf den Hals geschlagen. Sie schrien mich an... Sie beschuldigten mich, ein Verräter zu sein – ein Kollaborateur des Mossad [israelischer Geheimdienst]. Ich habe ihnen gesagt, dass wir auf die Strasse gegangen sind, weil wir leben wollen, wir wollen essen und trinken... Ich habe meine Familie bei einem der schlimmsten Massaker in diesem Krieg verloren, fünf meiner Geschwister und ihre Kinder wurden getötet. Es war schrecklich, als Kollaborateur beschimpft zu werden und dass man seinen Patriotismus in Frage stellt, wenn die eigene Familie ausgelöscht wird», sagte er und fügte hinzu, dass die Regierung in Gaza ihre Bürger*innen im Stich gelassen habe. Die Menschen wüssten zwar, dass Israel die Schuld trage, aber sie hätten auch das Gefühl, dass die Hamas-Behörden ihr Leid nicht «sehen».

Er wurde nach einer fast vierstündigen Festnahme und Verhör freigelassen und erhielt die Anweisung, sich nicht an weiteren Protesten zu beteiligen.

Hamas bezeichnet Kritik als Verrat

Seit der Übernahme des Gazastreifens im Jahr 2007 und der Einrichtung eines parallelen Sicherheits- und Strafverfolgungsapparats hat die Hamas die Vereinigungs-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit stark eingeschränkt. Die Behörden reagierten auf Proteste, insbesondere 2019, mit übermässiger Gewalt, Inhaftierungen und Folter. Nach dem 7. Oktober 2023 wurde die Meinungsfreiheit von der Hamas weiter eingeschränkt, unter anderem indem Kritiker*innen als Verräter*innen bezeichnet wurden.

Sieben von Amnesty International befragte Demonstrant*innen gaben an, dass sie von Sicherheitskräften in Zivil, die sie nach den Protesten oder während des Verhörs ansprachen, als «Verräter*in» bezeichnet worden seien. 

Ein Demonstrant sagte: «Hier in Beit Lahia sind wir mit unserem Land verbunden... als wir vertrieben wurden, war es, als hätte uns jemand unser ganzes Leben weggenommen. Wir riefen nach den Evakuierungsbefehlen unsere Nachbarn und Freunde auf zu protestieren, weil wir Angst vor einer weiteren Vertreibung hatten. Es war ein Protest gegen die Besatzung und auch gegen die Hamas. Wir wollten, dass sie uns zuhören.»

Er sagte, dass die Demonstrant*innen zunächst forderten, dass Israel seinen Völkermord beendet, einen Waffenstillstand einrichtet und die Grenzübergänge nach Gaza öffnet. Viele begannen jedoch, aus Wut Parolen gegen die Hamas zu skandieren.

Er berichtete Amnesty International, dass er mehrfach zum Verhör vorgeladen worden sei, sich aber geweigert habe. Am 17. April seien Männer, die mit den Hamas-Sicherheitskräften in Verbindung stehen, zu ihm nach Hause gekommen.

«Sie schlugen mich mit Stöcken und schlugen mir ins Gesicht. Die Schläge waren nicht sehr hart, ich denke, es war eher eine Drohung. Zuvor war bereits eine Person, die mit ihnen in Verbindung steht, nach einem Protest zu mir gekommen und hatte mir gedroht, mir in die Füsse zu schiessen, wenn ich weiter protestiere», sagte er.

Während des Verhörs sei er beschuldigt worden, vom Leiter des Geheimdienstes der palästinensischen Behörden in Ramallah rekrutiert und vom israelischen Geheimdienst bezahlt worden zu sein. «Das ist alles Unsinn», sagte er. «Sie wissen, dass es Unsinn ist. Ja, ich identifiziere mich mit der Fatah, aber in Gaza geht es jetzt nicht um Hamas und Fatah. Wir wollen überleben; wir wollen leben.»

Andere Einwohner*innen von Beit Lahia sagten, die Behörden hätten sie zwar bedroht, ihnen aber keinen körperlichen Schaden zugefügt. Ein 18-jähriger Student berichtete Amnesty International, dass Männer in Zivil ihm und seiner Familie drohten, sie würden sie verletzen, wenn er nicht aufhöre zu protestieren.

Eine Frau, die eine von Frauen geführte Mahnwache in Beit Lahia mitorganisiert hat, berichtete Amnesty International, dass ihrem Mann und ihren Kindern wegen ihrer Teilnahme an den Protesten mit Verhaftung gedroht wurde. Sie sagte: «Nach den Drohungen gegen die Männer wollten wir als Frauen unsere Stimme erheben. Es war ein kleiner Protest, aber wir wollten unserer Führung und auch der Besatzungsmacht [Israel] die Botschaft übermitteln, dass wir dies nicht länger hinnehmen können. Wir wollen unsere Kinder schützen, wir wollen leben.»

In den letzten Tagen haben die israelischen Streitkräfte ihre Militäroperationen im gesamten besetzten Gazastreifen ausgeweitet, in Beit Lahia erneut Panzer stationiert und die meisten Bewohner*innen vertrieben. Eine Frau, die am 16. Mai aus Beit Lahia in das Flüchtlingslager Shati in Gaza-Stadt vertrieben wurde, berichtete Amnesty International: «Wir haben gegen die Hamas und gegen den Krieg protestiert, und jetzt werden wir wieder von Israel vertrieben.»

Unter Bezugnahme auf die Äusserung des hochrangigen Hamas-Sprechers Sami Abu Zuhri: «Das Haus wird wieder aufgebaut und den Märtyrer werden wir zehnfach reproduzieren», sagte die Frau: «Sie [die Hamas-Führer] kümmern sich nicht um unser Leiden. Selbst wenn ich mein zerstörtes Haus wieder aufbauen würde, werden die Erinnerungen und das Leben, das ich dort hatte, nie wieder aufgebaut werden. Meine Cousine verlor ihren Mann und drei Kinder bei einem israelischen Angriff. Kann er sie ansehen und sagen, dass ihre Kinder reproduziert werden?»

Hintergrund

Die jüngste Niederschlagung der Proteste im besetzten Gazastreifen erfolgt vor dem Hintergrund des anhaltenden Völkermords durch Israel und einer noch nie dagewesenen humanitären Krise. Am 2. März hatte Israel die Versorgung mit humanitärer Hilfe und anderen für das Überleben der Zivilbevölkerung unerlässlichen Gütern vollständig eingestellt. Die 77-tägige totale Belagerung, die Israel auf internationalen Druck hin leicht, aber unzureichend gelockert hat, und die anhaltenden strengen Beschränkungen sind ein klarer und kalkulierter Versuch, über zwei Millionen Menschen kollektiv zu bestrafen und zur Schaffung von Lebensbedingungen beizutragen, die zur physischen Zerstörung der Palästinenser*innen in Gaza führen.