Katar muss jetzt sein Versprechen einlösen, das Kafala-Sponsorensystem abzuschaffen und Arbeitsmigrant*innen besser zu schützen, fordert Amnesty International. Im Reality Check 2021, einer Analyse zur Arbeitsreform in Katar, kommt die Menschenrechtsorganisation zum Schluss, dass die Fortschritte im Jahr 2021 stagniert haben und alte missbräuchliche Praktiken wieder aufgetaucht sind. Der Alltag vieler Arbeitsmigrant*innen in Katar ist trotz der seit 2017 eingeführten gesetzlichen Änderungen nach wie vor hart.
Angesichts der zunehmenden Kritik an der Menschenrechtslage in Katar im Vorfeld der Fussballweltmeisterschaft fordert Amnesty International die Behörden des Gastgeberlandes auf, dringend Massnahmen zu ergreifen, um den Reformprozess zu beschleunigen.
«Es ist noch nicht zu spät, die Reformen auch wirklich in die Tat umzusetzen», sagt Lisa Salza, Verantwortliche für Sport und Menschenrechte bei Amnesty Schweiz. «Die katarischen Behörden müssen ihre angekündigten Arbeitsreformen jetzt in vollem Umfang umsetzen. Alle bisherigen Fortschritte werden zunichte gemacht, wenn Katar die Massnahmen nicht durchsetzt und ausbeuterische Arbeitgeber*innen nicht zur Rechenschaft zieht.»
Bis August 2020 hatte Katar zwei Gesetze verabschiedet, die Arbeitsmigrant*innen ermöglichen, ohne Erlaubnis ihrer «Sponsor*innen» den Arbeitsplatz zu wechseln oder das Land zu verlassen. Bei ordnungsgemässer Durchsetzung haben diese Gesetze das Potenzial, das Kafala-System im Kern zu entkräften, das Arbeitsnehmende an ihre Arbeitgeber*innen bindet. Beschäftigte berichten Amnesty International jedoch, dass sie bei einem Arbeitsplatzwechsel weiterhin auf erhebliche Hürden stossen und unter Druck gesetzt werden.
«Viele Arbeitskräfte können nicht ohne Gefahr vor Repressalien den Arbeitsplatz wechseln oder sich wehren.» Lisa Salza, Verantwortliche für Sport und Menschenrechte bei Amnesty Schweiz
«Die offensichtliche Selbstgefälligkeit der Behörden führt dazu, dass Tausende von Arbeitsmigrant*innen weiterhin Gefahr laufen, ausgebeutet zu werden. Viele können nicht ohne Gefahr vor Repressalien den Arbeitsplatz wechseln oder sich wehren, wenn sie ihren Lohn nicht erhalten. Sie haben kaum Hoffnung auf rechtliche Abhilfe oder eine Entschädigung für erlittenes Unrecht. Nach der Fussballweltmeisterschaft wird das Schicksal der in Katar verbleibenden Arbeitsmigrant*innen noch ungewisser sein», sagt Lisa Salza.
Missbräuchliche Praktiken bestehen weiter
Katar hat seit 2017 eine Reihe positiver Reformen zugunsten von Arbeitsmigrant*innen in die Wege geleitet. Dazu gehören ein Gesetz, das die Arbeitszeiten für Hausangestellte regelt; Arbeitsgerichte, die den Zugang zur Justiz erleichtern; ein Unterstützungsfonds, wenn Löhne noch nicht ausgezahlt wurden; und die Einführung eines Mindestlohns. Das Land hat auch zwei wichtige internationale Menschenrechtsabkommen ratifiziert, allerdings ohne das Recht von Arbeitsmigrant*innen auf Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft anzuerkennen.
Diese Reformen werden jedoch ungenügend umgesetzt, was der fortdauernden Ausbeutung von ausländischen Arbeitnehmenden Vorschub leistet. So hat Katar zwar die Anforderung einer Ausreisegenehmigung und einer Unbedenklichkeitsbescheinigung (No-Objection Certificate – NOC) für die meisten Arbeitsmigrant*innen abgeschafft, sodass sie theoretisch das Land verlassen und den Arbeitsplatz wechseln können, ohne die Zustimmung ihrer «Sponsor*innen» einzuholen. De facto bestehen problematische Elemente des Kafala-Systems jedoch nach wie vor. Dazu gehört, dass Arbeitgeber*innen weiterhin den Arbeitsplatzwechsel von Beschäftigten blockieren und ihren rechtlichen Status kontrollieren können.
Obwohl die als NOC bezeichneten Unbedenklichkeitsbescheinigungen per Gesetz abgeschafft wurden, haben Organisationen zur Unterstützung von Arbeitsmigrant*innen und Botschaften in Doha festgestellt, dass das Fehlen einer schriftlichen Zustimmung der derzeitigen Arbeitgeber*innen die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass ein Antrag auf Arbeitsplatzwechsel abgelehnt wird. Dies wiederum hat zu einem «NOC-Handel» geführt, der für skrupellose Unternehmen zu einem lukrativen Geschäft geworden ist.
Ausserdem werden den Beschäftigten Gehälter und Sozialleistungen vorenthalten, um es ihnen zu erschweren, ihren Arbeitsplatz zu verlassen. Arbeitgeber*innen können nach wie vor Klage wegen «unerlaubtem Verlassen des Arbeitsplatzes» einreichen und Aufenthaltsgenehmigungen annullieren – Praktiken, die zur Kontrolle der Arbeitskräfte missbraucht werden.
Löhne bleiben aus
In ihrer Analyse stellt Amnesty International ausserdem fest, dass die verspätete oder ausbleibende Zahlung von Löhnen und anderen vertraglichen Leistungen nach wie vor zu den häufigsten Verstössen gegen Arbeitsmigrant*innen in Katar zählt. Dennoch haben Geschädigte weiterhin kaum Zugang zur Justiz, und es ist ihnen untersagt, sich zu organisieren, um gemeinsam für ihre Rechte einzutreten.
Weiterhin gehören verspätete oder ausbleibende Zahlung von Löhnen und anderen vertraglichen Leistungen zu den häufigsten Verstössen gegen Arbeitsmigrant*innen in Katar.
Im August 2021 dokumentierte Amnesty International das Versäumnis der katarischen Behörden, den Tod Tausender Arbeitsmigrant*innen zu untersuchen, obwohl es Beweise für einen Zusammenhang zwischen vorzeitigen Todesfällen und unsicheren Arbeitsbedingungen gab. Trotz der Einführung einiger neuer Schutzmassnahmen für Arbeitskräfte bestehen nach wie vor grosse Risiken. So sehen die neuen Verordnungen keine obligatorischen Ruhezeiten vor, die dem Klima oder der Art der Arbeit angemessen sind.
Amnesty International fordert auch den WM-Veranstalter FIFA auf, seiner Verantwortung gerecht zu werden und die mit dem Turnier verbundenen Menschenrechtsrisiken zu erkennen, zu verhindern, zu mindern und zu beheben. Dazu gehören auch Risiken für Beschäftigte im Hotel- und Gastgewerbe oder dem Transportwesen, die im Vorfeld der Fussball-WM massiv expandiert haben. Zudem muss die in der Schweiz ansässige FIFA öffentlich ihre Stimme erheben und die Regierung Katars auffordern, ihre angekündigten Arbeitsreformen noch vor dem Eröffnungsspiel der Weltmeisterschaft umzusetzen.
Es ist Zeit für gerechte Arbeitsbedingungen in Katar: Unterschreiben Sie die Amnesty-Petition an die FIFA