Flüchtlinge und MigrantInnen sind in Libyen unzumutbaren Bedingungen ausgesetzt. Sie riskieren ihr Leben im Mittelmeer in der Hoffnung auf Sicherheit in Europa. Stattdessen werden sie im Mittelmeer abgefangen und nach Libyen zurückgeschickt, wo sie erneut schwersten Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind. Der neue Amnesty-Bericht erscheint einen Tag nachdem die Europäische Kommission den neuen Migrationspakt verkündet hat, welcher zur Kontrolle von Migrationsströmen eine noch stärkere Zusammenarbeit mit Ländern ausserhalb der EU vorsieht.
Im Bericht vom Amnesty International «Between life and death: Refuges and migrants trapped in Libya’s cycle of abuse» berichten Flüchtlinge und MigrantInnen über die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen, die sie in Libyen erlebt oder mitangesehen haben. Hierzu zählen zum Beispiel rechtswidrige Tötungen, Verschwindenlassen, Folter und andere Misshandlungen, Vergewaltigung und andere Formen sexualisierter Gewalt, willkürliche Inhaftierung sowie Zwangsarbeit und Ausbeutung durch staatliche und nichtstaatliche Akteure. Die Verantwortlichen gehen dabei nahezu immer straffrei aus. Der Bericht behandelt auch aktuelle Entwicklungen, wie beispielsweise die Überstellung von Menschen, die in Libyen an Land gegangen sind, in nicht offizielle Hafteinrichtungen. Eine davon ist die berüchtigte Tabakfabrik in Tripolis.
«Flüchtlinge und MigrantInnen sind auf der Suche nach einem besseren Leben und müssen schreckliche Menschenrechtsverletzungen erdulden, statt Schutz zu erhalten.» Diana Eltahawy, stellvertretende Regionaldirektorin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International
«Das durch den jahrelangen Krieg auseinanderfallende Libyen ist für Flüchtlinge und MigrantInnen ein noch feindseligerer Ort geworden. Sie sind auf der Suche nach einem besseren Leben und müssen schreckliche Menschenrechtsverletzungen erdulden, statt Schutz zu erhalten. Trotz alledem verfolgen die Europäische Union (EU) und ihre Mitgliedstaaten auch im Jahr 2020 weiterhin eine Politik, die dafür sorgt, dass Zehntausende Männer, Frauen und Kinder in einer Spirale der Gewalt gefangen sind. Dies ist eine völlige Missachtung des Rechts auf Leben und der Würde dieser Menschen», so Diana Eltahawy, stellvertretende Regionaldirektorin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International.
Die Schweiz arbeitet mit Libyen über Frontex zusammen
Die Schweiz beteiligt sich aktiv an der Finanzierung der Agentur Frontex, die mit der libyschen Küstenwache zusammenarbeitet, sie ausbildet und ihr Ausrüstung zur Verfügung stellt. Sie hat Frontex bis 2019 mit jährlich 14 Millionen Euro finanziert. Seither wurde der Betrag neu bemessen, und die Schweizer Beiträge werden schrittweise erhöht, bis sie im Jahr 2024 75 Millionen erreichen werden. Darüber hinaus entsendet die Schweiz jedes Jahr rund 40 ExpertInnen. Zudem plant sie bis zu 16 ExpertInnen für zweijährige Einsätze und 59 Expertinnen für bis zu viermonatige Einsätze zu entsenden. Die Eidgenössische Zollverwaltung, das Staatssekretariat für Migration und die Kantone stellen dieses Personal zur Verfügung. «Die Schweiz ist Partner von Frontex. Die Schweiz ist so Partnerin einer Institution, die die Menschenrechte von MigrantInnen und Flüchtlingen komplett missachtet», sagt Pablo Cruchon, Kampagnenverantwortlicher Migration bei Amnesty International Schweiz.
Menschenrechtsgarantien wurden nicht eingefordert
Seit 2016 arbeiten die Mitgliedstaaten der EU unter der Führung von Italien mit den libyschen Behörden zusammen, um Menschen, die mit Booten aus Libyen fliehen, auf See abzufangen und zurückzuschieben. Hierzu stellen sie Schnellboote bereit, bieten Trainingsmöglichkeiten an und leisten Unterstützung bei der Koordinierung von Einsätzen auf dem Mittelmeer. Seither hat die von der EU unterstützte libysche Küstenwache geschätzt 60‘000 Frauen, Männer und Kinder auf See abgefangen und nach Libyen zurückgebracht, 8‘435 davon allein im Jahr 2020 (Stand: 14. September). Um die Einreise von Flüchtlingen und MigrantInnen mit allen Mitteln zu verhindern und völkerrechtliche Bestimmungen über das Verbot von Push-Backs zu umgehen, boten die EU-Staaten Libyen ihre Unterstützung an, ohne im Gegenzug die Einhaltung strikter Menschenrechtsgarantien zu fordern.
Unzählige Menschenrechtsverletzungen
Flüchtlinge und MigrantInnen sind in Libyen ständig der Gefahr ausgesetzt, festgenommen und inhaftiert zu werden. Zudem riskieren sie, von Milizen, bewaffneten Gruppen oder MenschenhändlerInnen entführt zu werden. In einigen Fällen werden Menschen so lange gefoltert oder vergewaltigt, bis ihre Familien ein Lösegeld zahlen. Andere sterben im Gewahrsam infolge von Gewalt, Folter, Hunger oder unzulänglicher medizinischer Versorgung.
Tausende Flüchtlinge und MigrantInnen fielen 2020 dem Verschwindenlassen zum Opfer, nachdem sie in inoffizielle Hafteinrichtungen verlegt worden waren, wie eine ehemalige Tabakfabrik, die einer mit der Regierung der Nationalen Einheit verbündeten Miliz unter Führung von Emad al-Trabuls untersteht.
Zahlreiche Flüchtlinge und MigrantInnen berichteten Amnesty International, wie sie während ihrer Haft in offiziellen DCIM-Zentren oder in von MenschenhändlerInnen geführten Hafteinrichtungen den Tod von ihnen nahestehenden Personen mitansehen mussten. Amnesty International hat die Echtheit von Videomaterial verifiziert, auf dem zu sehen ist, wie Milizen und bewaffnete Gruppen Flüchtlinge und MigrantInnen vorbeimarschieren lassen und sie misshandeln. MigrantInnen werden zudem gezwungen, an Militäreinsätzen teilzunehmen und so ihr Leben aufs Spiel zu setzen.
Frauen und Mädchen sind in erhöhter Gefahr, sexualisierter Gewalt ausgesetzt zu werden. Sie wenden sich häufig nicht an die Polizei oder die Staatsanwaltschaft, weil sie Inhaftierung bzw. Vergeltung der mutmasslichen Täter fürchten.
Darüber hinaus sind Flüchtlinge und MigrantInnen sehr stark mit Rassismus und Fremdenfeindlichkeit konfrontiert. Die Recherchen von Amnesty International haben ergeben, dass die De-facto-Behörden im Osten Libyens im Jahr 2020 mehr als 5‘000 Flüchtlinge und MigrantInnen abschoben, ohne verfahrensrechtliche Garantien einzuhalten oder den Betroffenen die Möglichkeit zu geben, Rechtsmittel gegen ihre Abschiebung einzulegen. Als einer der Gründe für die Entscheidung zur Abschiebung wurde die «Übertragung ansteckender Krankheiten» genannt.
Resettlement- und Evakuierungs-Programme sind mangelhaft
Angesichts dieser furchtbaren Bedingungen und entsetzlichen Menschenrechtsverletzungen bieten die bestehenden Resettlement- und Evakuierungs-Programme nicht in ausreichendem Masse sichere und legale Ausreisemöglichkeiten aus Libyen. Seit 2017 haben von diesen Programmen lediglich 5‘709 schutzbedürftige Flüchtlinge profitiert (Stand: 11. September 2020). Dies spiegelt wider, dass auch EU-Mitgliedstaaten nur wenige Resettlement-Plätze zur Verfügung stellen. Reisebeschränkungen, die aufgrund der COVID-19-Pandemie in Kraft sind, haben die Situation noch weiter verschlimmert, so dass bis zu den Grenzschliessungen im März 2020 lediglich 297 Flüchtlinge aus Libyen evakuiert wurden. Dies hat zur Folge, dass verzweifelte Flüchtlinge und MigrantInnen keine andere Wahl haben, als Libyen auf dem Seeweg über das Mittelmeer zu verlassen – in nicht seetüchtigen Booten.