In Libyen kämpfen seit 2011 verschiedene bewaffnete Gruppen und Milizen um die Vorherrschaft über das Land. Die Libysch-Arabischen Streitkräfte (Libyan Arab Armed Forces – LAAF) kontrollieren Benghazi, die zweitgrösste Stadt Libyens, sowie weite Teilen Ost- und Südlibyens. Tariq Ben Zeyad (TBZ) ist eine der grössten und einflussreichsten bewaffneten Gruppen, die unter der LAAF operieren. Sie besteht aus einer Mischung aus Berufssoldaten, die 2011 auf der Seite von des ehemaligen libyschen Herrschers Mu'ammar al-Gaddafi gekämpft haben, und Kämpfern aus mit der LAAF verbündeten Stämmen.
In einem neuen Bericht beschreibt Amnesty International detailliert, wie die TBZ routinemässig Tausende von vermeintlichen Gegnern verfolgt hat. Die Miliz wird angeführt von Saddam Haftar, Sohn von General Khalifa Haftar, dem Befehlshaber der LAAF, und seinem Stellvertreter Omar Imraj'.
Die Kämpfer sind für umfangreiche Gräueltaten verantwortlich – darunter rechtswidrige Tötungen, Folter und andere Misshandlungen, Verschwindenlassen, Vergewaltigungen und Zwangsvertreibungen.» Hussein Baoumi, Ägypten- und Libyen-Forscher von Amnesty International
«Seit ihrem Auftauchen im Jahr 2016 hat die bewaffnete Gruppe Tariq Ben Zeyad die Menschen in den von der LAAF kontrollierten Gebieten terrorisiert. Die Kämpfer sind für umfangreiche Gräueltaten verantwortlich, die in völliger Straflosigkeit begangen werden – darunter rechtswidrige Tötungen, Folter und andere Misshandlungen, Verschwindenlassen, Vergewaltigungen und Zwangsvertreibungen», sagte Hussein Baoumi, Ägypten- und Libyen-Forscher von Amnesty International.
«Es ist höchste Zeit, dass eine strafrechtliche Untersuchung über die Befehlsverantwortung von Saddam Haftar und Omar Imraj' eingeleitet wird. Sie sollten sofort aus Positionen entfernt werden, die es ihnen ermöglichen, weitere Verstösse zu begehen oder sich in die Ermittlungen einzumischen. Die LAAF muss ausserdem alle von der TBZ betriebenen inoffiziellen Haftanstalten schliessen und alle willkürlich Inhaftierten freilassen.»
Entführungen, Tötungen, Folter
Zwischen Februar und September 2022 befragte Amnesty International 38 Zeug*innen der Gewalt in der von der LAAF kontrollierten Gebieten, darunter ehemalige Gefangene, Binnenvertriebene, Militärkommandanten und Kämpfer. Einige Interviews wurden während einer Recherchereise im Land durchgeführt, andere aus der Ferne.
Amnesty International überprüfte offizielle Erklärungen und audiovisuelles Beweismaterial. Am 3. Oktober 2022 übermittelte Amnesty International ihre Ergebnisse an die Regierung der Nationalen Einheit (GNU) in Tripolis, an die Staatsanwaltschaft und an den Befehlshaber der LAAF. Bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ging keine Stellungnahme ein.
Amnesty International hat unter anderem die Fälle von 25 Personen dokumentiert, die von der TBZ zwischen 2017 und 2022 aufgrund ihrer politischen Ansichten oder ihrer Stammes-, Familien- oder regionalen Zugehörigkeit willkürlich inhaftiert und zum Verschwinden gebracht wurden.
Drei der Verschleppten wurden später tot aufgefunden – ihre Leichen waren auf der Strasse oder in Leichenhallen in Benghazi entsorgt worden, mit deutlich sichtbaren Schusswunden oder Folterspuren. Vier weitere Personen, die zum Verschwinden gebracht wurden, werden immer noch vermisst.
Drei mutmassliche LAAF-Gegner werden weiterhin willkürlich von der TBZ inhaftiert. Die übrigen 15 Personen wurden freigelassen, einige nach bis zu fünf Jahren Haft ohne Anklage oder Gerichtsprozess, andere nach Zahlung erpresserischer Lösegelder. Alle Freigelassenen gaben an, gefoltert und misshandelt worden zu sein, unter anderem durch Schläge, Auspeitschungen oder wiederholtes Aufhängen.
Ein ehemaliger libyscher Geheimdienstoffizier sagte, die TBZ habe ihn entführt, nachdem er sich geweigert hatte, mit ihnen zu kooperieren. Sie hielten ihn vier Jahre lang in einem TBZ-Stützpunkt in Benghazi fest, wo er gefoltert wurde und man ihm mit Vergewaltigung drohte. Er sagte, TBZ-Kämpfer hätten ihn gezwungen, sich hinzuknien und zu sagen: «Feldmarschall (Khalifa Haftar) ist mein Herr.»
Zwei ehemalige Gefangene, die getrennt voneinander befragt wurden, gaben an, dass sie zwischen 2017 und 2021 in von der TBZ kontrollierten Haftanstalten mindestens fünf Gefangene durch Folter oder Verweigerung der medizinischen Versorgung sterben sahen.
Zwangsumsiedlungen und Vertreibungen
Seit Ende 2021 war die TBZ an der gewaltsamen Vertreibung tausender Geflüchteter und Migrant*innen aus Sabha und den umliegenden Gebieten beteiligt.
Die TBZ war an der gewaltsamen Vertreibung tausender Geflüchteter und Migrant*innen aus Sabha und den umliegenden Gebieten beteiligt.
Amnesty International überprüfte Beiträge in sozialen Medien und eine von einem Mitglied der TBZ betriebene Facebook-Seite, die wiederholt zeigten, wie TBZ-Kämpfer Geflüchtete und Migrant*innen in Lastwagen verluden, die Richtung der Grenze zum Niger fuhren, um Libyen von «irregulären Migrant*innen» zu «befreien». Den Ausgewiesenen wurde das Recht verweigert, einen Asylantrag zu stellen oder ihre Abschiebung anzufechten, und sie wurden ohne Nahrung und Wasser in der Wüste zurückgelassen.
Die TBZ war auch an der Zwangsumsiedlung tausender libyscher Familien während der militärischen Kampagnen der LAAF zur Übernahme der Kontrolle über die Städte Benghazi und Derna im Osten Libyens zwischen 2014 und 2019 beteiligt.
Verantwortung des Kommandos
Nach den von Amnesty International gesammelten Beweisen, darunter Augenzeugenberichte, audiovisuelles Material und offizielle Erklärungen, wussten Saddam Haftar, der faktische Anführer der Gruppe, und Omar Imraj', der nominell der Befehlshaber ist, tatsächlich aber als Stellvertreter die Kontrolle über die täglichen Operationen ausübt, von den Verbrechen ihrer Untergebenen oder hätten davon wissen müssen. Sie unternahmen aber nichts, um diese Verbrechen zu verhindern oder die Täter zu bestrafen.
Saddam Haftar, der faktische Anführer der Gruppe, und Omar Imraj' hatten Kenntnis von den Verstössen, die an Gefangenen begangen wurden.
Sie hatten zudem mindestens Kenntnis von den Verstössen, die an Gefangenen begangen wurden. Ehemalige Häftlinge berichteten, dass Omar Imraj' regelmässig das von der TBZ kontrollierte Haftzentrum Sidi Faraj im Osten von Benghazi besuchte und mit Häftlingen sprach, die sichtbare Anzeichen von Folter aufwiesen. Fünf ehemalige Gefangene gaben an, dass ihnen Saddam Haftar bei persönlichen Begegnungen vor oder nach ihrer Freilassung mit einer längeren oder erneuten Inhaftierung gedroht habe, weil sie die LAAF in Frage gestellt hätten.
Ein Aktivist, der monatelang von der TBZ zum Verschwinden gebracht und gefoltert wurde, sagte, Saddam Haftar habe ihm nach seiner Freilassung gedroht: «Du hast die Wahl. Entweder du arbeitest für uns, oder du lebst wie ein Tier, das isst und schläft, ohne Hoffnungen, Träume oder Wünsche.»
Mehrere Angehörige ehemaliger Häftlinge sagten, sie hätten sich direkt an Saddam Haftar und Omar Imraj' gewandt und sie um die Freilassung ihrer Angehörigen gebeten. Ein ehemaliger Häftling informierte Saddam Haftar über die Misshandlungen in dem Gefangenenlager, der jedoch nichts unternahm, um die Verstösse zu beenden.
«Wenn die internationale Gemeinschaft ihre Haltung gegenüber Libyen nicht ändert und den Menschenrechten Vorrang vor kurzsichtigen politischen Interessen einräumt, werden noch unzählige weitere Menschen, die der Gnade der TBZ ausgeliefert sind getötet, gefoltert oder zum Verschwinden gebracht. Alle Staaten sollten mittels universelle Gerichtsbarkeit gegen Befehlshaber und Mitglieder der TBZ ermitteln, die im Verdacht stehen, für Verbrechen nach internationalem Recht verantwortlich zu sein», sagte Hussein Baoumi.