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Saudi-Arabien Drohende Hinrichtung von sieben Jugendlichen stellt Reformversprechen in Frage

Medienmitteilung 16. Juni 2023, London/Bern – Medienkontakt
Trotz der Zusicherung der saudi-arabischen Behörden, die Todesstrafe nicht mehr gegen zur Tatzeit Minderjährige zu verhängen, droht dort sieben jungen Männern die Hinrichtung, nachdem ihre Todesurteile von einem Berufungsgericht bestätigt wurden. Sollten die Männer hingerichtet werden, würde dies den ohnehin bereits grausamen Blutzoll weiter in die Höhe treiben: In den letzten drei Jahren hat sich die Zahl der Hinrichtungen in Saudi-Arabien versiebenfacht.

«Die saudi-arabischen Behörden haben zugesichert, die Anwendung der Todesstrafe einzuschränken und Gesetzesreformen verabschiedet, die die Hinrichtung von Personen verbieten, die zur Tatzeit minderjährig waren. Wenn die Behörden möchten, dass diese Zusagen ernst genommen werden, müssen sie umgehend die geplante Hinrichtung der sieben Männer aussetzen, die zum Zeitpunkt der Festnahme alle minderjährig waren», sagt Heba Morayef, Regionaldirektorin von Amnesty International für den Nahen Osten und Nordafrika.

«Die Regierung muss sich bewusstwerden, was sie den betroffenen Familien zufügen, wenn sie ihnen Informationen über die Hinrichtung ihres Sohnes, Bruders, Ehemannes oder Verwandten vorenthält. Es ist skrupellos, so mit den Gefühlen der Angehörigen zu spielen, die verzweifelt auf ein Zeichen der Gnade warten. Ihr Leid ist unvorstellbar.»

Die Familien der von der Todesstrafe Bedrohten werden oft nicht informiert, wenn der Oberste Gerichtshof und der König Todesurteile ratifizieren. Vielmehr erfahren sie oft erst aus den Medien von der Hinrichtung ihrer Angehörigen.

Die sieben vom Todesurteil bedrohten Männer waren zum Zeitpunkt der mutmasslichen Straftat alle unter 18 Jahre alt, einer von ihnen war sogar erst zwölf Jahre alt. Während ihrer Untersuchungshaft hatten sie keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand. Die Todesurteile wurden zwischen März 2022 und März 2023 in Berufungsverfahren bestätigt. Sechs der Männer wurden aufgrund terrorismusbezogener Anklagen zum Tode verurteilt, der siebte wegen bewaffneten Raubüberfalls und Mordes. Die Gerichtsverfahren aller Männer entsprachen nicht den internationalen Standards für faire Verfahren und stützten sich auf durch Folter erlangte «Geständnisse».

Saudi-Arabien hat eine der höchsten Hinrichtungsraten weltweit. Im Jahr 2022 wurden dort 196 Menschen exekutiert. Dies ist die höchste in Saudi-Arabien von Amnesty International erfasste jährliche Hinrichtungsrate seit 30 Jahren – drei Mal höher als noch 2021, und mindestens sieben Mal höher als 2020.

Im Jahr 2023 sind in Saudi-Arabien bisher 54 Menschen auf der Grundlage verschiedener Straftaten hingerichtet worden, darunter Mord, Drogenschmuggel und terrorismusbezogene Straftaten.

Gesetzesreformen ignoriert

Die sieben jungen Männer wurden für die ihnen vorgeworfenen Straftaten nach der Kategorie ta’zir bestraft, für die im islamischen Recht keine festen Strafen festgelegt sind. Das Gericht entscheidet daher nach Ermessen.

Seit 2018 gilt in Saudi-Arabien ein Jugendstrafrecht, nach dem Personen unter 18 Jahren, die wegen einer ta’zir-Straftat schuldig gesprochen werden, maximal zu zehn Jahren Haft verurteilt werden können. Ein 2020 ausgesprochenes königliches Dekret verbietet zudem auf Ermessen basierende Todesurteile gegen Personen, die zum Zeitpunkt der ihnen vorgeworfenen Straftat unter 15 Jahre alt waren.

Im Mai 2023 bestätigte die staatliche Menschenrechtskommission in einem Brief an Amnesty International, dass die Anwendung der Todesstrafe gegen Jugendliche auf der Basis von ta’zir-Straftaten komplett abgeschafft worden sei.

Im November 2022 nahm Saudi-Arabien Hinrichtungen für Drogendelikte wieder auf, nachdem zuvor laut Angaben der Menschenrechtskommission seit Januar 2020 ein Moratorium für derartige Exekutionen gegolten hatte.

Unfaire Gerichtsverfahren

Sechs der sieben jungen Männer wurden wegen terrorismusbezogener Vorwürfe verurteilt, die darauf basierten, dass sie z.B. an regierungskritischen Demonstrationen teilgenommen oder an Beerdigungen von durch Sicherheitskräfte getöteten Personen teilgenommen hatten.

Diese sechs Männer gehören der schiitischen Minderheit an, deren Mitglieder routinemässig diskriminiert werden und sich wegen Kritik an der Regierung in unfairen Gerichtsverfahren auf der Grundlage vager und weit gefasster Anklagen verantworten müssen.

Yousef al-Manasif, der zum Zeitpunkt der mutmasslichen Straftat zwischen 15 und 18 Jahre alt war, wurde im November 2022 durch das Sonderstrafgericht zum Tode verurteilt.

Laut des Anklageprotokolls und der Urteilsschrift, die beide von Amnesty International eingesehen wurden, wurde Yousef al-Manasif auf der Grundlage mehrerer Anklagepunkte für schuldig befunden, darunter: «Versuch, das soziale Gefüge und den nationalen Zusammenhalt zu stören, sowie Teilnahme an und Aufrufen zu Sitzblockaden und Protesten, die den Zusammenhalt des Staatsgefüges und die Sicherheit bedrohen.» Seine Familie gab an, dass sie ihn erst mehr als sechs Monate nach seiner Festnahme sehen bzw. besuchen durfte, und dass er vorher in Isolationshaft gehalten worden sei. Das Berufungsgericht bestätigte das Todesurteil im März 2023.

Abdullah al-Darazi, ein weiterer Verurteilter, war zum Zeitpunkt der mutmasslichen Straftat 17 Jahre alt. Auch er wurde mehrerer Anklagepunkte für schuldig befunden, darunter «Teilnahme an Unruhen in Al-Qatif, Skandieren von Parolen gegen den Staat und Verursachen von Chaos» sowie wegen «Angreifen von Sicherheitskräften mit Molotow-Cocktails». Er sagte vor Gericht aus, dass er drei Jahre lang in Untersuchungshaft gehalten worden sei und während der Ermittlungen und der Untersuchungshaft keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand hatte.

Aus den von Amnesty International eingesehenen Gerichtsunterlagen geht hervor, dass Abdullah al-Darazi vor Gericht Folgendes vorbrachte: «Ich verlange ein unabhängiges medizinisches Gutachten zum Nachweis der von mir erlittenen Folter... Die Unterlagen des Dammam-Krankenhauses belegen, dass ich dort weiterhin behandelt werde, weil ich während meines Verhörs Schläge auf die Ohren erhalten habe. Ich fordere nach wie vor ein entsprechendes Gutachten.»

Das Gericht führte weder eine unabhängige medizinische Bewertung noch eine Untersuchung der Foltervorwürfe durch. Stattdessen bestätigte im August 2022 die Berufungsabteilung des Sonderstrafgerichts sein Todesurteil. «Es verstösst gegen das Völkerrecht, Menschen hinzurichten, die zum Zeitpunkt der ihnen vorgeworfenen Straftat unter 18 Jahre alt waren, oder die für Straftaten zum Tode verurteilt wurden, die nicht mit vorsätzlicher Tötung einhergingen. Ebenso verbietet das Völkerrecht unfaire Gerichtsverfahren, in denen beispielsweise ‚Geständnisse‘ verwendet werden, die durch Folter oder andere Formen der Misshandlung erlangt wurden. Die Todesstrafe ist die grausamste, unmenschlichste und erniedrigendste aller Strafen», sagt Heba Morayef.

Hinrichtungsrate höher als gedacht

In ihrem Brief an Amnesty International vom Mai 2023 gab die saudi-arabische Menschenrechtskommission an, dass im Jahr 2022 insgesamt 196 Personen hingerichtet worden seien. Diese Zahl liegt um einiges höher als die Zahl der Hinrichtungen, die von der offiziellen saudi-arabischen Presseagentur gemeldet und von Amnesty International erfasst wurde und sich auf 148 belief.

Heba Morayef sagt: «Die Differenz zwischen der von der Menschenrechtskommision angegebenen Hinrichtungszahl und der von der Presseagentur gemeldeten Zahl deutet darauf hin, dass die regelmässigen Berichte der Presseagentur nicht das wahre Ausmass an Exekutionen widerspiegeln. Wenn die saudi-arabischen Behörden möchten, dass ihre zugesicherten Reformpläne ernst genommen werden, dann müssen sie als ersten Schritt ein Hinrichtungsmoratorium einführen und auch dafür sorgen, dass die Gerichte keine durch Folter erlangten Aussagen zulassen.»