In dem neuen Bericht: «I fear going to work »: Labour exploitation at Carrefour sites in Saudi Arabia» dokumentiert Amnesty International auch, wie Arbeitsmigranten in erbärmlichen Unterkünften untergebracht waren. Sie lebten mit der stetigen Angst, entlassen zu werden, wenn sie sich beschwerten oder sich weigerten, zusätzliche Überstunden zu leisten.
Die Menschenrechtsverletzungen, denen einige der Arbeiter ausgesetzt waren, erfüllen mutmasslich den Tatbestand der Zwangsarbeit und des Menschenhandels, mit dem Zweck der Ausbeutung. Trotz dieser schwerwiegenden Vorwürfe haben weder die Carrefour-Gruppe noch ihr Partner Majid Al Futtaim, der das Franchiseunternehmen in Saudi-Arabien betreibt, angemessene Massnahmen ergriffen, um diese Verstösse zu unterbinden oder Beschäftigte zu entschädigen.
«Die Arbeitsmigranten dachten, ihnen stünde eine bessere Zukunft bevor, stattdessen waren viele von ihnen Ausbeutung und anderen Menschenrechtsverstössen ausgesetzt. Das Unternehmen Carrefour hat nichts getan, um dieses Leid zu verhindern. Einige der Männer mussten Arbeitsbedingungen ertragen, die wohl als Zwangsarbeit zu werten sind, andere wurden Opfer von Menschenhandel», sagte Marta Schaaf, Direktorin des Programms für Klima, wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit und Unternehmensverantwortung bei Amnesty International.
«Carrefour ist nach den internationalen Menschenrechtsnormen verpflichtet, dafür zu sorgen, dass es in seinen Betrieben, einschliesslich der Franchiseunternehmen, nicht zu Menschenrechtsverletzungen kommt. Jetzt sollten Carrefour und Majid Al Futtaim handeln, um die Missstände zu beheben – dazu gehört auch die dringende Entschädigung der Betroffenen. Ausserdem müssen sie sicherstellen, dass den Beschäftigten in ihren Betrieben nie wieder Schaden zugefügt wird.»
Amnesty International veröffentlicht den Bericht zwei Wochen, bevor der Verwaltungsrat der Internationalen Arbeitsorganisation eine bahnbrechende Beschwerde gegen die saudi-arabische Regierung prüfen wird, in der es um Lohndiebstahl, Zwangsarbeit und das Verbot von Gewerkschaften geht. Die Beschwerde wurde von der globalen Gewerkschaft Building and Wood Workers' International (BHI) im Juni 2024 eingereicht, unterstützt von Amnesty International und anderen Organisationen.
Betrogen, überarbeitet und unterbezahlt
Die jüngsten Recherchen von Amnesty International folgen auf einen 2023 von der Organisation veröffentlichten Bericht, der Menschenrechtsverletzungen in Amazon-Niederlassungen in Saudi-Arabien aufdeckte, an denen ebenfalls eine der jetzt untersuchten Arbeitsvermittlungsagenturen beteiligt war. Die neueste Untersuchung basiert auf Interviews und Informationen von 17 Männern aus Nepal, Indien und Pakistan. Sie alle arbeiteten zwischen 2021 und 2024 in verschiedenen Carrefour-Filialen in Riad, Dammam und Dschidda. Angestellt waren sie jedoch fast alle bei Arbeitsvermittlungsagenturen, die Arbeitskräfte an Majid Al Futtaim vermitteln.
Um sich einen Arbeitsplatz zu sichern, zahlten die Arbeitsmigranten an Personalvermittler*innen in ihren Heimatländern eine durchschnittliche Gebühr von 1200 Dollar. Sie nahmen dafür oft hochverzinste Schulden auf, obwohl solche Gebühren nach saudischem Recht verboten sind und auch die Standards von Majid Al Futtaim selbst dies verbieten.
Fast alle Befragten wurden von den Vermittler*innen über die Art und die vermeintlichen Vorteile der Arbeitsplätze in Saudi-Arabien belogen oder getäuscht. Manchen von ihnen wurde vorgegaukelt, sie würden direkt von internationalen Unternehmen eingestellt. Viele erfuhren erst nach der Zahlung der Gebühren, dass sie bei saudi-arabischen Arbeitsvermittlungsunternehmen angestellt werden würden, die für ihre ausbeuterischen Arbeitspraktiken berüchtigt sind. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Betroffenen keine Möglichkeit mehr, die bereits gezahlten Gebühren zurückzufordern und vom Vertrag zurückzutreten.
In Saudi-Arabien mussten die Männer harte Arbeit leisten und erhielten wiederholt nicht den vollständigen Lohn. Sie berichteten, dass sie regelmässig mehr als 20 Kilometer pro Tag zurücklegen und 60-Stunden-Wochen arbeiten mussten, manchmal bis zu 16 Stunden pro Tag. Dies galt vor allem in Zeiten, in denen das Geschäft boomte, wie z. B. während dem Ramadan. Die Betroffenen, die in Supermärkten, Lagerhäusern oder Distributionszentren für den Onlinehandel tätig waren, gaben an, dass ihnen vom Management immer wieder die freien Ruhetage gestrichen worden seien. Ein solches Vorgehen stellt sowohl eine Verletzung saudi-arabischer Gesetze als auch der Standards von Majid Al Futtaim dar.
Anand* (Name geändert), ein ehemaliger Lagerarbeiter, berichtete Amnesty: «In den Carrefour-Filialen werden die Beschäftigten nicht wie Menschen behandelt, sondern wie Tiere. Da heisst es ständig ‚yallah, yallah, los, los!‘ Die zerren dir am T-Shirt, damit du schneller arbeitest.»
Viele der Beschäftigten sagten, dass das Schlimmste gewesen sei, für Überstunden nicht ordnungsgemäss bezahlt zu werden, so wie es das nationale Recht und die Unternehmenspolitik vorschreiben. So wurde oft die Bezahlung Dutzender Überstunden pro Monat verweigert, was jedes Jahr einen Verlust von mehreren Hundert Dollar bedeutet.
Die von den Arbeitsvermittler*innen bereitgestellten Unterkünfte waren häufig schmutzig und überfüllt, was erneut den eigenen Anforderungen von Majid Al Futtaim widerspricht. Die Arbeiter gaben an, dass sie zu sechst oder zu acht in einem Raum schlafen mussten, den einer von ihnen als «Kuhstall» bezeichnete.
Die Arbeitsmigranten sprachen von einer Kultur der Angst. Arbeitnehmer, die ihre Beschwerden direkt bei den Managern der Carrefour-Niederlassungen vorbrachten, sagten, dass sie ignoriert wurden oder man ihnen sagte, sie sollten sich stattdessen mit den Arbeitsvermittlungsunternehmen auseinandersetzen. Angestellte, die protestierten, sahen sich Vergeltungsmassnahmen seitens der Vermittlungsagenturen oder durch die Leitung der Carrefour-Niederlassungen ausgesetzt. Dadurch wurde weitere Kritik im Keim erstickt. Obwohl Majid Al Futtaim gegenüber Amnesty International erklärte, dass das Unternehmen Vergeltungsmassnahmen verbiete, gegen Angestellte die «berechtigte Anliegen» vortrügen, berichteten die befragten Arbeitnehmer*innen, dass ihnen mit Lohnausfall oder Entlassung gedroht wurde, wenn sie sich weigerten, Überstunden zu leisten.
Mutmassliche Zwangsarbeit
Die Erfahrungen der von Amnesty International befragten Arbeitsmigrant*innen zeigen, dass die beiden Schlüsselelemente von Zwangsarbeit – unfreiwillige Arbeit und Androhung von Strafen – in den Franchisebetrieben der Carrefour-Gruppe in Saudi-Arabien nachweisbar sind.
Die Carrefour-Gruppe ist sich ihrer Verantwortung bewusst und hat sich verpflichtet, internationale Menschenrechtsstandards einzuhalten, auch bei ihren Franchiseunternehmen und Personalvermittlungsagenturen. Amnesty International hat jedoch festgestellt, dass deren Prozesse zur Einhaltung der Sorgfaltspflicht völlig unzureichend sind. Und das, obwohl in Saudi-Arabien die Schwere und Häufigkeit von Arbeitsrechtsverstössen – bis hin zum Einsatz von Zwangsarbeit – akut und gut dokumentiert ist.
«Es ist allgemein bekannt, dass Arbeitsmigrant*innen in Saudi-Arabien trotz einiger Reformen weiterhin dem Kafala-Sponsorensystem des Landes unterworfen sind, keinen garantierten Mindestlohn erhalten und keine Gewerkschaften gründen dürfen. Es gibt keine Entschuldigung dafür, dass Carrefour seine Beschäftigten nicht vor Ausbeutung schützt, und keine Rechtfertigung dafür, ihnen die ihnen zustehende Entschädigung vorzuenthalten», sagt Marta Schaaf.
«Die grosse Gefahr der Ausbeutung in Saudi-Arabien unterstreicht die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform des Arbeitsrechtssystems des Landes. Der Verwaltungsrat der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) sollte dringend eine Untersuchung der Verletzungen von Arbeitnehmerrechten einleiten und sicherstellen, dass Saudi-Arabien seine Arbeitsgesetze und -praktiken vollständig mit den entsprechenden internationalen Normen in Einklang bringt.»
Als Reaktion auf die Untersuchungsergebnisse von Amnesty International erklärten die Carrefour-Gruppe und Majid Al Futtaim, dass sie eine interne Untersuchung über die Behandlung von Arbeitsmigrant*innen in ihren saudi-arabischen Betrieben eingeleitet hätten. Die Carrefour-Gruppe veranlasste ausserdem eine externe Prüfung der Geschäftspraktiken ihres Franchise-Partners. Des Weiteren erläuterte Majid Al Futtaim die Schritte, die das Unternehmen seit der ersten Untersuchung von Amnesty International unternommen habe, um Missstände zu beseitigen. Es habe Arbeiter*innen in neuen Unterkünften untergebracht, die Überstundenregelung und das Verbot von Vermittlungsgebühren würde überprüft, neue Zulieferer würden ebenfalls besser geprüft und der Zugang zur Hotline für Mitarbeiter*innen verbessert.
«Es bleiben jedoch wichtige Fragen offen. Warum hat keines der beiden Unternehmen die seit langem bestehenden Missstände aufgedeckt oder beseitigt, bevor Amnesty International Mitte 2024 darauf aufmerksam gemacht hat? Warum ist nichts passiert, nachdem wir unsere Recherchen zu einem ihrer Zulieferer im vergangenen Jahr veröffentlicht hatten? Keines der Unternehmen hat sich bisher verpflichtet, die Vermittlungsgebühren zu erstatten oder die betroffenen Arbeitnehmer für die erlittenen Schäden zu entschädigen», so Marta Schaaf.
Dokumentierte Ausbeutung lässt nichts Gutes für den Bau von Stadien für die WM 2034 hoffen
Nach dem Bericht über Ausbeutung in Lagern von Amazon in Saudi-Arabien vom Oktober 2023 hat Amnesty International zum zweiten Mal innert eines Jahres Betrug, Täuschung und Menschenrechtsverletzungen bis hin zu Menschenrechtshandel von Arbeitsmigrant*innen in Saudi-Arabien dokumentiert.
Die dokumentierten Verstösse sollten auch dem internationalen Fussballverband Fifa zu Denken geben, welcher an seinem Kongress im Dezember 2024 die Vergabe der Fussball-Weltmeisterschaft 2034 an Saudi-Arabien bekannt geben möchte. Nach der Veröffentlichung der Menschenrechtsanalyse und des Massnahmenplans, mit dem Menschenrechtsverletzungen im Kontext der WM verhindert werden sollten, hatte Amnesty kritisiert, dass darin keine grundlegende Reform des ausbeuterischen Arbeitssystems («Kafala-System») vorgesehen sei. Es ist davon auszugehen, dass ohne angemessene Reformen das Arbeitssystem – wie bei der WM in Katar – zur Ausbeutung von Arbeitsmigrant*innen, welche die Stadien und die erforderte Infrastruktur (aus-)bauen werden, führen wird.
Hintergrund
- Die Carrefour-Gruppe war Sponsor der Olympischen Spiele 2024 in Paris und erwirtschaftet einen Jahresumsatz von mehr als 94 Milliarden Euro.
- Die Carrefour-Niederlassungen und -Geschäfte in Saudi-Arabien werden von dem in den Vereinigten Arabischen Emiraten ansässigen Unternehmen Majid Al Futtaim über einen Franchisevertrag mit der Carrefour-Gruppe mit Hauptsitz in Frankreich betrieben.
- Der ILO-Verwaltungsrat wird sich am 7. November mit der Beschwerde der Gewerkschaft BHI befassen.
- Nachdem Recherchen von Amnesty International Missstände aufgezeigt hatten, bezahlte Amazon über 1,9 Millionen Dollar an über 700 Arbeitnehmer*innen zur Erstattung der Vermittlungsgebühren.