Die Menschenrechtsorganisation sammelte zwischen dem 12. und 16. Oktober Zeugenaussagen von 17 Personen, darunter ÄrztInnen und Rettungspersonal, vertriebene Zivilpersonen, JournalistInnen und Mitarbeitende lokaler und internationaler Hilfsorganisationen. Zudem hat Amnesty International Videomaterial analysiert und verifiziert sowie medizinische Berichte und andere Unterlagen eingesehen.
Die gesammelten Informationen liefern erdrückende Beweise für willkürliche Angriffe der türkischen Streitkräfte und verbündeter syrischer Kämpfer in Wohngebieten; darunter Angriffe auf Wohnhäuser, eine Bäckerei und eine Schule. Zu zahlreichen Toten und Verletzten führte auch ein Luftangriff vom 13. Oktober auf einen grossen zivilen Konvoi zwischen Qamischli und Ras al-Ain, in dem auch mehrere Journalistinnen und Journalisten unterwegs waren. Mit grausamen Details wird zudem die kaltblütige Erschiessung einer prominenten syrisch-kurdischen Politikerin, Hevrin Khalaf, durch Mitglieder von Ahrar Al-Sharqiya dokumentiert, einer Koalition syrischer bewaffneter Gruppen, die von der Türkei ausgerüstet und unterstützt wird.
«Die türkische Militäroffensive im Nordosten Syriens hat verheerende Auswirkungen auf das Leben der Zivilbevölkerung, die wieder einmal zur Flucht gezwungen wurde und in ständiger Angst vor wahllosen Bombardements, Entführungen und Exekutionen lebt. Das türkische Militär und seine Verbündeten legen eine schockierende Kaltherzigkeit an den Tag, was das Leben von Zivilpersonen angeht. Zahlreiche Zivilistinnen und Zivilisten wurden in rechtswidrigen Angriffen auf Wohngebiete bereits verletzt oder getötet», sagte Kumi Naidoo, Generalsekretär von Amnesty International.
«Die Türkei ist für die Handlungen der von ihr unterstützten syrischen bewaffneten Gruppen verantwortlich, die sie unterstützt, bewaffnet und anleitet. Bisher hat die Türkei diesen bewaffneten Gruppen freie Hand gelassen – sie haben bereits schwere Menschenrechtsverletzungen in Afrin und anderswo begangen. Wir fordern die Türkei erneut auf, die Verstösse zu beenden, die Täter zur Verantwortung zu ziehen und die unter ihrer Kontrolle lebenden Zivilpersonen zu schützen. Die Türkei kann sich der Verantwortung nicht entziehen, indem sie Kriegsverbrechen an bewaffnete Gruppen auslagert.»
Die Gesundheitsbehörde der kurdischen Verwaltung in Nordostsyrien sagte am 17. Oktober, dass seit Beginn der Offensive in Syrien mindestens 218 Zivilpersonen getötet wurden, darunter auch 18 Minderjährige.
Laut Angaben der türkischen Behörden sind in der Türkei bis zum 15. Oktober infolge von Mörserangriffen durch kurdische Truppen 18 Zivilpersonen getötet und 150 verletzt worden. Sollten kurdische Streitkräfte tatsächlich zivile Ziele in der Türkei mit unpräzisen explosiven Waffen beschiessen, so verstossen sie damit gegen das humanitäre Völkerrecht und müssen diese rechtswidrigen Angriffe unverzüglich einstellen.
Zivilbevölkerung unter Beschuss
Einer der entsetzlichsten Angriffe ereignete sich am 12. Oktober um etwa 7 Uhr morgens, als türkische Streitkräfte einen Luftangriff durchführten und zwei Geschosse in der Nähe einer Schule in Salhiyê einschlugen, in der zahlreiche vertriebene Zivilpersonen untergekommen waren. Ein kurdischer Mitarbeiter des Roten Halbmonds schilderte, wie er tote und verletzte Menschen aus den Trümmern barg:
«Es geschah alles so schnell. Insgesamt wurden sechs Menschen verletzt und vier getötet, darunter auch zwei Kinder. Ich konnte nicht erkennen, ob es Jungen oder Mädchen waren, weil ihre Leichen so geschwärzt waren. Sie sahen aus wie Kohle. Die anderen beiden Getöteten waren ältere Männer, sie sahen älter aus als 50. Ich stehe immer noch unter Schock.» Er erklärte ausserdem, dass die nächste Front mehr als 1 Kilometer entfernt sei und sich zum Zeitpunkt des Angriffs keine KämpferInnen oder militärische Ziele in der Nähe der Schule befanden.
Ein anderer kurdischer Mitarbeiter des Roten Halbmonds sprach mit Amnesty International über seinen Versuch, einen elfjährigen Jungen und ein achtjähriges Mädchen zu retten, die bei einem Granatenangriff verletzt wurden, als sie vor ihrem Haus in der Nähe der al-Salah-Moschee in Qamischli spielten. Er sagte, dass Qamischli seit dem 10. Oktober wahllos beschossen werde und dass bereits mehrere Wohnhäuser, eine Bäckerei und ein Restaurant getroffen worden seien.
«Der Junge wurde am Brustkorb verletzt. Die Verletzung war furchtbar. Es war eine offene Wunde... und er konnte nicht atmen. Es sah aus, als hätte ein Granatsplitter seine Brust aufgerissen», so der kurdische Mitarbeiter des Roten Halbmonds.
Der Junge starb später an seinen Verletzungen. Seine Schwester wurde ebenfalls von Granatsplittern getroffen und man musste ihr einen Unterschenkel amputieren. Der Mitarbeiter der Rettungsorganisation sagte, dass es in der Nähe weder Militärstützpunkte noch Kontrollpunkte gebe.
Luftangriff auf zivilen Konvoi
Am 13. Oktober führte die Türkei einen Luftangriff auf einen Markt durch, bei dem laut unabhängigen internationalen BeobachterInnen ein ziviler Fahrzeugkonvoi getroffen wurde, in dem u. a. mehrere JournalistInnen von Qamischli nach Ras al-Ain unterwegs waren. Laut Angaben des Roten Halbmonds wurden dabei sechs Zivilpersonen getötet, darunter ein Journalist, und 59 Menschen verletzt. Ein anwesender Journalist beschrieb den Angriff als «ein absolutes Massaker». Er sagte, der Konvoi habe aus etwa 400 zivilen Fahrzeugen bestanden und es seien keine KämpferInnen anwesend gewesen, sondern lediglich eine Handvoll bewaffnete Bewacher.
«Alle Konfliktparteien müssen das humanitäre Völkerrecht respektieren. Darin heißt es, dass alle praktikablen Vorsichtsmassnahmen ergriffen werden müssen, um Schaden für die Zivilbevölkerung zu vermeiden oder wenigstens zu minimieren. Für den Beschuss eines zivilen Konvois gibt es keine Entschuldigung», betont Kumi Naidoo.
«Es gibt keine Rechtfertigung für den willkürlichen Beschuss von zivilen Bereichen mit unpräzisen Waffen wie zum Beispiel Mörsergranaten. Solche rechtswidrigen Angriffe müssen untersucht und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.»
Die USA ist der grösste Waffenexporteur in die Türkei. Auch aus Italien, Deutschland, Brasilien und Indien werden Rüstungsgüter in grossem Ausmass an das Land geliefert. Amnesty International fordert die Staatengemeinschaft auf, alle Waffenlieferungen an die Türkei und andere Konfliktparteien, auch kurdische Streitkräfte, umgehend auszusetzen, wenn glaubhafte Beweise dafür vorliegen, dass diese Parteien mit den Waffen Menschenrechtsverletzungen begehen oder ermöglichen und somit gegen das Völkerrecht verstossen.
Entführungen und summarische Hinrichtungen
Amnesty International untersuchte zudem Zeugenaussagen, Videoaufnahmen und medizinische Gutachten in Verbindung mit dem Überfall auf die kurdische Politikerin Hevrin Khalaf, Generalsekretärin der Partei Zukunft Syriens, am 12. Oktober auf der Verkehrsstrasse zwischen Rakka und Qamischli. Mitglieder von Ahrar Al-Sharqiya zerrten die Politikerin aus ihrem Auto, schlugen sie und erschossen sie kaltblütig. Auch ihr Leibwächter wurde getötet.
Am selben Tag und am selben Ort töteten Mitglieder von Ahrar Al-Sharqiya mindestens zwei kurdische Kämpfer. Sie entführten ausserdem zwei Männer, beides Zivilpersonen, die für eine medizinische Organisation Medikamente transportierten. Laut Angaben ihrer Familienangehörigen ist der Verbleib der beiden Männer unbekannt. Amnesty International kann anhand vorhandener Videoaufnahmen bestätigen, dass die summarischen Hinrichtungen der kurdischen Kämpfer und die Entführung der beiden Zivilpersonen am Nachmittag des 12. Oktober stattfanden.
Eine enge Freundin von Hevrin Khalaf sagte Amnesty International, dass sie Hevrin angerufen habe und ein Mann ans Telefon gegangen sei, der sich als Kämpfer einer bewaffneten syrischen Oppositionsgruppe ausgegeben habe. Er sagte zu ihr auf Arabisch: «Ihr Kurden seid Verräter, ihr alle in der Partei [PKK] seid Spione.» Er informierte sie ausserdem über die Tötung von Hevrin Khalaf.
Ein Amnesty International vorliegendes medizinisches Gutachten listet zahlreiche Verletzungen auf, die Hevrin Khalaf zugefügt wurden. So wies sie z. B. mehrere Schusswunden am Kopf, im Gesicht und am Rücken auf und hatte Knochenbrüche im Gesicht, am Schädel und an den Beinen. An Teilen des Schädels fehlten ihr Haut und Haare, weil man sie an den Haaren herumgezerrt hatte.
«Wehrlose Menschen kaltblütig zu töten ist absolut verwerflich und ganz eindeutig ein Kriegsverbrechen. Die Tötung von Hevrin Khalaf und anderen Personen durch Ahrar al-Sharqiya muss unabhängig untersucht und die Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden. Die Türkei ist in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass von ihr kontrollierte Truppen keine weiteren Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverstösse begehen. Wenn die Türkei ihre Verbündeten nicht zur Ordnung ruft und die Straflosigkeit für Menschenrechtsverstösse nicht beendet, wird dies zu weiteren Gräueltaten führen», so Kumi Naidoo.
Humanitäre Lage spitzt sich zu
Mitarbeitende internationaler und lokaler Hilfsorganisationen sagten Amnesty International, dass das Zusammenspiel mehrerer Faktoren zu einem Worst-Case-Szenario geführt habe: der Abzug der US-amerikanischen Truppen aus dem Nordosten Syriens, die türkische Militäroffensive und die Beteiligung syrischer Regierungstruppen an den Kämpfen.
Es besteht grosse Sorge um die über 100‘000 Vertriebenen und ihren Zugang zu Nahrung, Trinkwasser und Medikamenten, sowie die langfristigere Bereitstellung von Hilfsleistungen. In den Lagern für Binnenvertriebene wie z. B. dem Flüchtlingslager al-Hol ist die Bevölkerung komplett von humanitärer Hilfe abhängig. Am 10. Oktober warnten 14 internationale humanitäre Einrichtungen, dass die Offensive den Zugang der Bevölkerung zu Hilfslieferungen abschneiden könnte. Einige Tage später schätzte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, dass die Kampfhandlungen zur Vertreibung von 300‘000 Menschen und damit zu einer massiven Wasserknappheit führen könnten.
Viele vertriebene Menschen wissen nicht wohin und schlafen auf der Strasse, in Gärten oder in Waldstücken. Manche suchen in Schulen Schutz.
In Derbassiya besteht etwa 90% der Bevölkerung aus Binnenvertriebenen. Ein Mann, der mit seiner Familie dorthin geflohen war, sagte Amnesty International, dass etwa die Hälfte davon bei Verwandten im Süden untergekommen sei und der Rest in Schulen und Moscheen Unterschlupf gesucht habe.
«In Süd-Derbassiye gibt es keine humanitären Organisationen. Wir haben keine gesehen. Wir brauchen grundlegende Dinge wie Wasser, Nahrungsmittel, Kleidung, Decken und Matratzen. Wir brauchen eine medizinische Klinik... der Winter kommt. Wir brauchen eine Lösung, besonders für die Familien, die im Freien leben», sagt er.
Ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation berichtete Amnesty International: «Menschen, die bereits an chronischen Erkrankungen leiden, sind besonders gefährdet. Ihr Überleben hängt davon ab, wie lange diese Kämpfe andauern, und ob wir zukünftig noch arbeiten können.»
Viele Menschen zeigten sich sehr besorgt darüber, dass die Sicherheitslage zur vermehrten Evakuierung von Mitarbeitenden internationaler Organisationen führen könnte, und dass der Vormarsch syrischer Regierungstruppen ein Risiko für arabische und kurdische Helferinnen und Helfer sowie für Binnenvertriebene darstellen könnte. Es wird zudem befürchtet, dass Hilfsorganisationen in ihren wichtigen grenzübergreifenden Aktivitäten eingeschränkt werden.
«Alle Konfliktparteien – einschliesslich die Türkei, mit der Türkei verbündete bewaffnete Gruppen, die syrische Regierung und kurdische Truppen – müssen lokalen und internationalen humanitären Einrichtungen uneingeschränkten Zugang gewähren. Aufgrund der Offensive droht eine verheerende humanitäre Katastrophe in einem bereits vom Krieg verwüsteten Land», so Kumi Naidoo.