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Syrien Todesfalle Rakka

Medienmitteilung 25. April 2019, London/Bern – Medienkontakt
Amnesty International und Airwars haben die Militäroffensive zur Vertreibung des IS aus der syrischen Stadt Rakka in einem umfangreichen, innovativen Datenprojekt aufgearbeitet und dokumentiert. Die beiden Organisationen fordern, dass die von den USA geführte Militärkoalition endlich damit aufhört, das verheerende Ausmass der Zerstörungen und die hohe Zahl ziviler Todesopfer zu leugnen.

Die interaktive Website raqqa.amnesty.org präsentiert die Ergebnisse einer fast zwei Jahre andauernden Recherche – die umfassendste Untersuchung zu zivilen Todesopfern eines modernen Konflikts überhaupt.

Von Juni bis Oktober 2017 flogen die USA, Grossbritannien und Frankreich Tausende von Luftangriffen auf Rakka, um den selbsternannten Islamischen Staat (IS) aus der Stadt zurückzudrängen. US-Bodentruppen unterstützten die Luftschläge durch Zehntausende Artillerieangriffe. Nach der Militäroffensive waren 1'600 zivile Todesopfer zu beklagen.

Der IS war zuvor fast vier Jahre lang in Rakka an der Macht gewesen und hatte dort Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Wer es wagte, sich dem IS zu widersetzen wurde gefoltert oder getötet. In einem Bericht dokumentierte Amnesty, wie der IS ZivilistInnen als menschliche Schutzschilde missbrauchte, Fluchtwege verminte und diejenigen erschoss, die zu fliehen versuchten.

«Die Scharfschützen und Minen des IS hatten die Stadt in eine Todesfalle verwandelt. Viele Bombenangriffe der US-geführten Koalition waren ungenau, Zehntausende Artillerieattacken erfolgten willkürlich. Es erstaunt nicht, dass es dermassen viele zivile Opfer gab», sagte Donatella Rovera, Senior Crisis Response Adviser bei Amnesty International.

«Die Koalitionstruppen haben Rakka zerstört, aber die Wahrheit können sie nicht ausradieren. Amnesty International und Airwars fordern die Verantwortlichen auf, das schockierende Ausmass der durch die Offensive verursachten zivilen Todesopfer und Zerstörungen nicht weiter abzustreiten. Die Koalition muss genau untersuchen, was in Rakka falsch gelaufen ist. Sie muss aus ihren Fehlern lernen, damit der Zivilbevölkerung bei zukünftigen Militäroperationen nicht noch einmal ein derart grosses Leid zugefügt wird», erklärte Airwars-Direktor Chris Woods.

Einsatz hochmoderner Untersuchungsmethoden

Für diese Untersuchung haben Amnesty International und Airwars verschiedene Datenströme zusammengefügt und gegengeprüft. Mitarbeitende von Amnesty International begannen bereits während der Bombardierung mit ihren Recherchen in der Stadt: Sie waren vier Mal vor Ort, verbrachten insgesamt circa zwei Monate in Rakka, untersuchten über 200 Einschlagsorte und interviewten mehr als 400 ZeugInnen und Überlebende.

Mitarbeitende von Amnesty International begannen bereits während der Bombardierung mit ihren Recherchen in der Stadt.

Durch das innovative Projekt «Strike Trackers» von Amnesty International konnte erfasst werden, wann genau die mehr als 11‘000 in Rakka zerstörten Gebäude von Geschossen getroffen wurden. Über 3‘000 digitale Aktivisten aus 124 Ländern beteiligten sich an diesem Projekt und analysierten dabei mehr als zwei Millionen Satellitenbilder. Zudem analysierte das Digital Verification Corps von Amnesty International – das weltweit an sechs Universitäten aktiv ist – das während der Kämpfe aufgenommene Video- und Bildmaterial und überprüfte es auf seine Authentizität.

Mitarbeitende von Airwars und Amnesty International analysierten in Echtzeit und nach den Kämpfen frei verfügbares Beweismaterial (Open Source Evidence), darunter Tausende Social-Media-Posts und anderes Material, und erstellten auf diese Weise eine Datenbank mit den mehr als 1600 Zivilistinnen und Zivilisten, die diesen Berichten zufolge durch die Angriffe der Militärkoalition getötet wurden. Die beiden Organisationen ermittelten mehr als 1000 Namen von Todesopfern, von denen Amnesty International vor Ort 641 verifizieren konnte. Die restlichen Namen stammen aus sehr glaubhaften Berichten unterschiedlicher Quellen.

Amnesty International und Airwars haben sowohl die US-geführte Militärkoalition als auch die Regierungen der USA, Grossbritanniens und Frankreichs vielfach über die Ergebnisse ihrer Untersuchungen informiert. Darauffolgend hat die Militärkoalition die Verantwortung für den Tod von 159 Zivilisten übernommen, was zehn Prozent der ermittelten Gesamtopferzahl entspricht, die restlichen Opfer aber als «unglaubwürdig» abgetan. Bislang hat die Militärkoalition nichts unternommen, um die Berichte über zivile Opfer angemessen zu untersuchen oder Augenzeugen und Überlebende zu interviewen.

Ganze Häuserblocks dem Erdboden gleichgemacht

Angesichts des unablässigen Beschusses von Rakka, der nicht nur ungenau sondern teils auch willkürlich in unmittelbarer Nähe von ZivilistInnen erfolgte, ist die hohe Zahl an zivilen Opfern wenig überraschend.

Ein Sprecher des US-Militärs prahlte damit, dass während der Offensive 30‘000 Artilleriegeschosse abgefeuert worden seien. Das entspricht einem Artillerieschlag alle sechs Minuten für vier Monate am Stück und ist mehr als in jedem anderen Konflikt seit dem Vietnamkrieg. Mit Abweichungen von mehr als 100 Metern vom anvisierten Ziel ist ungelenkter Artilleriebeschuss notorisch ungenau und stellt bei Einsatz in bewohnten Gebieten einen willkürlichen Angriff dar.

Familien in Sekundenbruchteilen ausgelöscht

Die Militärkräfte der USA, Großbritanniens und Frankreichs führten Tausende Luftangriffe in Wohngebieten durch, wodurch es zu zahlreichen zivilen Opfern kam.

Ein besonders tragischer Vorfall ereignete sich am frühen Abend des 25. September 2017, als ein Luftschlag der Militärkoalition ein fünfstöckiges Wohngebäude nahe der Maari-Schule im zentral gelegenen Stadtteil Harat al-Badu komplett zerstörte. Im Keller des Gebäudes waren vier Familien untergebracht. Fast alle Mitglieder dieser Familien – mindestens 32 Zivilisten, darunter 20 Kinder – wurden bei dem Luftschlag getötet. Eine Woche später kamen weitere 27 Zivilpersonen ums Leben, als ein Luftschlag ein nahegelegenes Gebäude zerstörte. Viele von ihnen waren Verwandte der Opfer des Angriffs am 25. September.

Zeit, Verantwortung zu übernehmen

Viele der von Amnesty dokumentierten Fälle stellen sehr wahrscheinlich Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht dar.

Viele der von Amnesty International dokumentierten Fälle stellen sehr wahrscheinlich Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht dar. Trotz grösster Anstrengungen werden NGOs wie Amnesty International und Airwars nie über die notwendigen Ressourcen verfügen, um das gesamte Ausmass der Todesfälle und Verletzungen unter der Zivilbevölkerung Rakkas ermitteln zu können. Vor diesem Hintergrund fordern die beiden Organisationen von den Mitgliedern der US-geführten Militärkoalition die Einsetzung einer unabhängigen und unparteiischen Instanz, die effektiv und zeitnah die Berichte über zivile Opfer, einschliesslich damit einhergehender Verletzungen des humanitären Völkerrechts, überprüft und die Ergebnisse öffentlich macht.

Zudem wird von den an Luft- und Artillerieschlägen beteiligten Mitgliedern der Militärkoalition, insbesondere den USA, Grossbritannien und Frankreich, Transparenz verlangt: zum einen in Bezug auf Taktik, Mittel und Methoden ihrer Angriffe sowie der Auswahl der Ziele, zum anderen hinsichtlich der bei Planung und Durchführung der Angriffe getroffenen Massnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung.

Darüber hinaus müssen die Koalitionsmitglieder einen Hilfs-Fonds errichten, der gewährleistet, dass Opfer und Familienangehörige vollumfängliche Entschädigungs- und Wiedergutmachungsleistungen erhalten.