Flagge von Tunesien (Ersatzbild nach Ablauf der Rechte für das Originalbild) © pixabay
Flagge von Tunesien (Ersatzbild nach Ablauf der Rechte für das Originalbild) © pixabay

Tunesien Zwei Jahre nach Machtergreifung des Präsidenten Saied: Weitere Aushöhlung der Menschenrechte

24. Juli 2023
Im zweiten Jahr nach der Machtergreifung durch den tunesischen Präsidenten Kais Saied haben die tunesischen Behörden weitere Unterdrückungsmassnahmen eingeleitet. So werden Dutzende Oppositionelle und Regierungskritiker*innen ins Gefängnis gesteckt. Die Unabhängigkeit der Justiz wird laufend verletzt und institutionelle Menschenrechtsgarantien werden abgebaut. Ausserdem wird zu Gewalt gegen Migrant*innen angestachelt.

«Dekret für Dekret, Schlag für Schlag haben Präsident Saied und seine Regierung seit seiner Machtübernahme im Juli 2021 die Achtung der Menschenrechte in Tunesien drastisch ausgehöhlt. Damit hat er den Tunesier*innen grundlegende Freiheiten genommen, die sie sich hart erkämpft haben, und zu einem Klima der Unterdrückung und Straflosigkeit beigetragen», sagt Heba Morayef, Regionaldirektorin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International. «Die tunesischen Behörden müssen unverzüglich von dieser tückischen Politik ablassen und ihren internationalen Menschenrechtsverpflichtungen nachkommen.»

Unterdrückung der politischen Opposition 

Seit Februar 2023 sind die Behörden immer wieder mit konstruierten Vorwürfen und Festnahmen gegen Oppositionelle, Regierungskritiker*innen und vermeintliche Feinde von Präsident Saied vorgegangen. Gegen mindestens 21 Personen wurde in einem öffentlichkeitswirksamen Fall ein Strafverfahren wegen «Verschwörung gegen den Staat» eingeleitet, darunter gegen Mitglieder der politischen Opposition, Rechtsbeistände und Geschäftsleute.

Mindestens sieben Personen sind im Zusammenhang mit politischem Aktivismus oder politischen Aussagen nach wie vor willkürlich inhaftiert, darunter bekannte Oppositionelle wie Jaouhar Ben Mbarek und Khayam Turki. Die tunesischen Behörden haben insbesondere Mitglieder der grössten Oppositionspartei des Landes, Ennahda, ins Visier genommen, darunter auch den Parteivorsitzenden Rached Ghannouchi. Gegen mindestens 21 Parteimitglieder wurden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet. Zwölf von ihnen befinden sich derzeit in Haft.

Angriff auf das Recht auf freie Meinungsäusserung  

Seit dem 25. Juli 2021 hat Amnesty International die Fälle von mindestens 39 Personen dokumentiert, die allein wegen der Ausübung ihres Rechts auf freie Meinungsäusserung Gegenstand strafrechtlicher Ermittlungen waren. Ihnen wird unter anderem vorgeworfen, die Behörden «beleidigt» oder «Falschnachrichten verbreitet» zu haben, beides keine anerkannten Straftatbestände nach internationalem Recht. Als weitere repressive Massnahme erliess Präsident Saied im September 2022 das Dekret 54, ein drakonisches Cybercrime-Dekret, das die Behörden mit umfassenden Machtbefugnissen zur Einschränkung der freien Meinungsäusserung im Internet ausstattet.

Rassistische Kommentare des Präsidenten führten zu einer Welle von Gewalt gegen Schwarze Menschen.

Diskriminierung von Flüchtlingen und Migrant*innen  

Im Februar 2023 führte eine Reihe rassistischer Kommentare von Präsident Saied zu einer Welle von Gewalt gegen Schwarze Menschen, die sich in Form von Angriffen, Zwangsräumungen und der willkürlichen Festnahme von Migrant*innen afrikanischer Herkunft äusserte. Die Polizei nahm mindestens 840 Migrant*innen, Flüchtlinge und Asylsuchende fest. Einige von ihnen wurden willkürlich in der Hafteinrichtung Ouardia inhaftiert, in der ausschliesslich Personen untergebracht sind, die mit migrationsbezogenen Straftaten in Verbindung gebracht werden. 

In den beiden Wochen nach den rassistischen Äusserungen des Präsidenten nahmen Angriffe auf Schwarze Afrikaner*innen erheblich zu. Menschenmengen gingen auf die Strasse und griffen Migrant*innen, Flüchtlinge und Asylsuchende an. Die Polizei nahm Dutzende Personen fest. Im Mai führten Auseinandersetzungen zwischen Bewohner*innen der südtunesischen Stadt Sfax und Migrant*innen und Asylsuchenden zum Tode eines Migranten, im Juli wurde bei Auseinandersetzungen ein Tunesier erstochen. Im Anschluss an die Todesfälle schoben die Behörden Dutzende Migrant*innen und Asylsuchende aus Ländern südlich der Sahara ins benachbarte Libyen ab. 

«Die Behörden müssen unverzüglich Massnahmen ergreifen, um die Rechte ausländischer Staatsangehöriger aus Ländern südlich der Sahara, darunter Migrant*innen, Asylsuchende und Flüchtlinge, zu schützen. Sie müssen auch aufhören, sie willkürlich zu inhaftieren oder abzuschieben, und das, ohne zu prüfen, ob ihnen bei ihrer Rückkehr Verfolgung droht.»

Errungenschaften der Revolution von 2011 in Gefahr  

Im Februar 2022 warf Präsident Saied zivilgesellschaftlichen Organisationen vor, sie stünden im Dienst ausländischer Kräfte. Er habe vor, «Finanzierungen aus dem Ausland» zu verbieten. Seitens der Behörden gelangte der Entwurf eines restriktiven neuen Gesetzes zur Vereinsgründung an die Öffentlichkeit. Mit der Verabschiedung des Gesetzes würden wichtige Schutzbestimmungen für das Recht auf Vereinigungsfreiheit abgeschafft. Bei dem Entwurf handelt es sich um eine Änderung des Gesetzesdekrets 2011-80, das zivilgesellschaftliche Vereinigungen regelt und ihnen das Existenzrecht sowie das Recht auf freie Ausübung ihrer Tätigkeit gewährt. 

Die Unabhängigkeit der Justiz wird untergraben, der Präsident hat die Befugnis, in die Ernennung von Richter*innen und Staatsanwält*innen einzugreifen.

Präsident Saied hat die Unabhängigkeit der Justiz durch zwei Dekrete untergraben, die ihm die Befugnis verleihen, in die Ernennung von Richter*innen und Staatsanwält*innen einzugreifen, einschliesslich der Befugnis, diese willkürlich aus dem Amt zu entlassen. Am 1. Juni 2022 entliess Präsident Saied 57 Richter*innen auf der Grundlage vager und politisch motivierter Vorwürfe wegen Terrorismus, finanzieller oder moralischer Verdorbenheit, Ehebruchs oder der Beteiligung an «durch Alkohol angeheizten Partys». 

Am 25. Juli 2022 konnte Präsident Saied seine Macht weiter festigen, als der Entwurf einer neuen Verfassung in einem Referendum angenommen wurde. Die Verfassung war nach einem beschleunigten Entwurfsprozess und ohne angemessene Konsultation zivilgesellschaftlicher Organisationen oder anderer politischer Parteien vorgelegt worden. Während sie eine Erweiterung der Befugnisse von Präsident Saied vorsieht, wird die Unabhängigkeit der Justiz darin geschwächt, und das Land läuft Gefahr, wieder in ein Ausmass an Unterdrückung zurückzufallen wie vor 2011.

«Die tunesischen Behörden müssen der Unterdrückung der Menschenrechte, durch die die hart erkämpften Errungenschaften der Revolution 2011 immer mehr erodieren, sofort beenden. Dazu müssen sie zunächst alle willkürlich Inhaftierten freilassen und von strafrechtlichen Ermittlungen und Verfolgungen gegen Oppositionelle, Menschenrechtsaktivist*innen und andere Personen absehen, die lediglich ihre Rechte auf freie Meinungsäusserung und friedliche Versammlung wahrnehmen», sagte Morayef.