© Pro Infirmis Schweiz
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Inklusions-Initiative / Porträts Mit kämpferischer Kraft

Von Olalla Piñeiro Trigo. 8. März 2024
Nouh Latoui lässt sich seine Rechte und seine Autonomie trotz seiner Abhängigkeit vom Rollstuhl nicht nehmen.

Auf den ersten Blick scheint er eine ruhige Persönlichkeit zu sein: Nouh Latoui hat eine ruhige Stimme, wirkt eher unbekümmert und strahlt eine gewisse Gutmütigkeit aus. Doch wer sich mit seinem Werdegang beschäftigt, entdeckt eine starke Persönlichkeit, die sich nicht alles gefallen lässt. Der 24-Jährige wurde auch schon laut, wenn es darum ging, seine Rechte einzufordern. Denn obwohl er mit einer Querschnittslähmung geboren wurde, hat er seine Behinderung nie als Einschränkung betrachtet und er weigert sich, sich von der Gesellschaft behindern zu lassen.

Diese Entschlossenheit machte den Lausanner zum ersten Schweizer Rekruten im Rollstuhl. Es ist das Ergebnis eines Kampfes, der mehr as drei Jahre gedauert hat. Alles begann damit, dass ein Militärarzt bescheinigte, dass er aufgrund seiner Behinderung «untauglich» für die Armee sei und auch von der Militärsteuer befreit werde. Doch Nouh Latoui ist damit nicht einverstanden: «Das ist eine Diskriminierung. Man hat nur meinen Rollstuhl gesehen und nicht meine Fähigkeiten». Er argumentierte mit einem ärztlichen Attest, das bescheinigt, dass die Armee seine Gesundheit nicht gefährdet. Aber er läuft gegen eine Wand. Nach dem Entscheid kontaktiert er einen Anwalt von Inclusion Handicap, um sein Recht auf Militärdienst geltend zu machen. Ein Schritt, der für ein Mitglied der sozialdemokratischen Partei erstaunlich erscheinen mag. «Militärdienst ist ein Traum, den ich seit meiner Kindheit habe. Ich wollte etwas von meiner Zeit opfern, um der Schweiz zu dienen, ob nun Sozialdemokrat oder nicht» erklärt der junge Mann.

Ein Soldat im Rollstuhl bei einem Militärappell… das hat doch auch verwirrt.

Nouh Latoui brauchte viel Geduld und musste eine Reihe von Einsprachen erheben, bis er schliesslich Recht bekam. 2021 tritt er in der Kaserne von Payerne an, wo er einen Posten in der Logistik erhält. Eine der schönsten Lebenserfahrungen, wie er gerne betont. Diese Zeit sei vorwiegend von Wohlwollen geprägt gewesen. Doch ein Soldat im Rollstuhl bei einem Militärappell… das habe doch auch verwirrt. Es gab auch Mitrekruten, die darüber spotteten, dass er unbedingt in einer Institution Dienst leisten wollte, den sie lieber vermieden hätten. Und es gab auch in der Öffentlichkeit unangenehme Situationen. «Im Zug schauten mich die Leute komisch an. Manche hielten meine Uniform für eine Verkleidung. Ich wurde auch unverhältnismässig oft kontrolliert», erzählt er.

Einige Monate nach der RS ein weiteres Ärgernis: Nach einer Ausbildung zum Grafikdesigner erhielt Nouh Latoui einen Job in einer geschützten Werkstatt. Doch der war von kurzer Dauer: Nouh Latoui kündigte seine Stelle, auch wenn er so keinen Lohnerwerb mehr haben würde, nur noch IV. «Ich hatte in der Werkstatt 2,50 CHF pro Stunde verdient, bei einem 80 Prozent-Pensum von 7 bis 17 Uhr», erzählt er. «Das ist eine ausbeuterische Situation, die ich nicht akzeptieren kann. Das Problem ist, dass Menschen mit Behinderungen so wenig Alternativen haben. Die Mehrheit wagt es deshalb nicht, etwas zu sagen.»

Nouh Latouis Lebensgeschichte machte ihn zu einer starken Persönlichkeit, trotz seiner jungen Jahre hat er schon viel erlebt. Er wurde von seiner Mutter aufgezogen; sein Vater verliess nach seiner Geburt die Familie, weil dieser sich nicht um ein Kind mit einer Behinderung kümmern wollte. Als Teenager entzog ihm der Schweizer Unihockeyverband die Lizenz, weil er nicht als «ausreichend behindert» galt. «Man warf mir vor, dass ich zu viel Kraft habe», sagt Nouh Latoui. «Ich bin querschnittsgelähmt und kann nicht laufen! Das hat mich echt genervt».

An allen Fronten

Von seiner IV-Rente lebend, widmet er sich heute voll und ganz den Rechten von Menschen mit Behinderungen. Er ist Vorstandsmitglied der Vereinigung Cerebral Schweiz und der Waadtländer Sektion von Pro Infirmis. Nouh Latouis Hauptthema ist die Barrierefreiheit. Er engagiert sich in der AVACAH, der waadtländischen Vereinigung für behindertengerechtes Bauen: Sie hat die Aufgabe, die Einhaltung der Normen für Barrierefreiheit in öffentlichen Gebäuden zu überprüfen. Und wenn man Nouh Latoui glauben darf, ist man noch weit davon entfernt.

«Der Gipfel der Ironie ist, wenn sich Behinderten-WCs im Obergeschoss befinden, natürlich ohne Lift»

«In Lausanne gibt es immer noch viele Restaurants, die keine Behindertentoilette haben. Und selbst wenn, dann dienen diese oft als Lagerraum oder als Umkleideraum für die Angestellten. Der Gipfel der Ironie ist, wenn sich Behinderten-WCs im Obergeschoss befinden, natürlich ohne Lift», sagt er nicht ohne Bitterkeit. Ganz zu schweigen von Kinos, Bars oder Clubs, die häufig unzugänglich sind. Für einen Menschen mit Behinderung ist Spontanität oft unmöglich: «Man muss sich immer organisieren. Wenn man einen Zug nimmt, muss man prüfen, ob der Bahnhof zugänglich ist. Manchmal muss man sich bis zu 24 Stunden im Voraus anmelden. Jedes Mal, wenn ich irgendwo essen gehen will, rufe ich im Restaurant vorher an, um sicherzustellen, dass es ein Behinderten-WC gibt».

Kein Wunder also, dass sich Nouh Latoui politisch engagiert, «um an Entscheidungen beteiligt zu sein», wie er erklärt. Er kandidierte für die Juso für den Nationalrat auf der «Liste der Menschen mit Behinderungen». «Für mich ist klar: Es darf nichts über uns entscheiden werden, ohne dass man uns einbezieht. Nichtbehinderte Menschen können nicht alle Herausforderungen verstehen, mit denen wir konfrontiert sind. Ich bin nicht der Sprecher der 1,7 Millionen Menschen mit Behinderungen im Land, aber ich kann meine Erfahrung einbringen.»

Als die Inklusions-Initiative lanciert wurde, zögerte Nouh Latoui nicht: Er ist freiwilliger Koordinator für den Verein für eine inklusive Schweiz und betreute rund 40 Informations- und Sammelstände für die Kampagne. Ein Engagement, das es mit sich bringt, mit den Vorbehalten der Bevölkerung konfrontiert zu werden. «Manche Leute sagen, die Initiative sei unnötig. Menschen mit Behinderungen hätten in der Schweiz schon zu viele Rechte.» Doch Nouh Latoui ist ein Optimist und ist überzeugt: Die Initiative kann Türen öffnen und die Haltung der Menschen verändern.