Warum ist ein mögliches «Burka-Verbot» in der Schweiz überhaupt ein Thema für Amnesty?
Amnesty International engagiert sich weltweit gegen eine Vielzahl von Menschenrechtsverletzungen. Das Thema «Burka in europäischen Ländern» hat dabei angesichts der geringfügigen Dimension des (angeblichen) Problems keine Priorität. Jedoch bezieht Amnesty International klar Stellung, wenn die «Burka» instrumentalisiert wird, um im Namen der Menschen- und Frauenrechte bestimmte Bevölkerungsgruppen und Religionsgemeinschaften zu stigmatisieren oder fremdenfeindliche und islamfeindliche Ängste zu schüren.
Ist die Burka menschenrechtswidrig?
Ein Kleidungsstück als solches ist nicht menschenrechtswidrig. Wenn aber Menschen gegen ihren Willen vom Staat oder von Privaten gezwungen werden, ein bestimmtes Kleidungsstück immer oder unter bestimmten Umständen zu tragen oder nicht zu tragen, kann dies eine Verletzung der persönlichen Freiheitsrechte sein. Staaten sind gemäss internationalen Menschenrechtsstandards verpflichtet, die persönlichen Freiheitsrechte aller Menschen zu gewährleisten und Verstösse gegen diese Rechte durch den Staat selbst oder durch Private zu verhindern und zu ahnden.
Ist ein Verbot der (Voll-)Verschleierung menschenrechtswidrig?
Ein staatliches Verbot, ein bestimmtes Kleidungsstück in der Öffentlichkeit zu tragen, kann eine Verletzung der persönlichen Freiheitsrechte und des Rechts auf freie Religionsausübung sein. Zu beurteilen ist aus menschenrechtlicher Sicht, ob eine solche Einschränkung der Grundfreiheiten aus Gründen der öffentlichen Sicherheit, Ordnung, Gesundheit oder zum Schutz der Grundrechte Dritter zu rechtfertigen ist und ob er verhältnismässig ist, also zumutbar, geeignet und notwendig, um das gewünschte Ziel zu erreichen. Diese Kriterien sind in jedem Einzelfall sehr genau zu prüfen. Ein generelles Burka-Verbot in europäischen Ländern ist für Amnesty International nicht gerechtfertigt.
Der Uno-Menschenrechtsausschuss, der die Umsetzung des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte überwacht, hat 2018 festgehalten, dass Vertragsstaaten, darunter auch die Schweiz, von Personen verlangen können, unter bestimmten Umständen im Rahmen von Identitätskontrollen ihr Gesicht zu entblössen. Eine generelles Verhüllungsverbot sei jedoch eine zu drastische und unverhältnimässige Massnahme. Der Ausschuss kam auch zum Schluss, dass Frauen die den Vollschleier tragen, durch ein Verbot nicht geschützt, sondern im Gegenteil an den Rand gedrängt werden: Sie drohen auf ihr Zuhause beschränkt und vom öffentlichen Leben ausgeschlossen zu werden.
Der Europäische Menschenrechtsgerichtshofs stützte in seinem Urteil vom 1. Juli 2014 das französische Burkaverbot - was sagt Amnesty dazu?
Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof stützte das Burkaverbot in Frankreich nicht generell. Er hielt in seinem sehr differenzierten Urteil vielmehr fest, dass die von Frankreich angeführten Argumente der öffentlichen Sicherheit und der Geschlechtergleichstellung keine hinreichenden Gründe für ein Vollverschleierungsverbot seien. Jedoch kam das Gericht zum Schluss, das Tragen einer Vollverschleierung verstosse im konkreten Fall, den es zu beurteilen galt, gegen gesellschaftliche Normen und beeinträchtige das «soziale Zusammenleben». Für Amnesty International ist diese Argumentation mit Blick auf die Meinungsäusserungsfreiheit sehr beunruhigend: In seiner Quintessenz bedeutet sie, dass eine Frau keinen Vollschleier tragen darf, weil dies anderen Menschen unangenehm sein könnte. Das ist aber keine hinreichende Begründung, um jemandem den Ausdruck einer Überzeugung zu verbieten oder ein bestimmtes Verhalten zu untersagen, das als solches niemandem weh tut.
Dient die Burka der Unterdrückung von Frauen?
Die gemäss einer bestimmten Auslegung aus dem Koran abzuleitende Vorschrift, wonach sich Frauen in der Öffentlichkeit zu verhüllen hätten, entspricht einem patriarchalen Gesellschaftsmodell, in dem sich Frauen ihrem Mann unterzuordnen haben. Die Burka schränkt Frauen praktisch in ihren Möglichkeiten ein, sich frei zu bewegen und mit anderen Menschen offen in Kontakt zu treten. Daraus zu schliessen, dass alle Frauen, die sich verschleiern, unterdrückt sind, wäre allerdings falsch. Ebenso falsch wäre aber auch die Folgerung, dass ein Verbot der Verschleierung Frauen generell befreien könnte. Die Mechanismen der Diskriminierung und Unterdrückung von Frauen sind weit komplizierter - und dies bei weitem nicht nur in islamischen Gesellschaften.
Wie würde sich ein Verschleierungsverbot in der Schweiz auf die Lage der muslimischen Frauen auswirken?
Die direkten Auswirkungen wären gering, da von den in der Schweiz lebenden muslimischen Frauen nur sehr wenige eine Burka tragen. Es ist zudem nicht bekannt, wie viele von ihnen dies freiwillig tun und wie viele gegen ihren Willen. Gemäss einer neuen Studie von Andreas Tunger-Zanetti, Leiter des Zentrums für Religionsforschung an der Universität Luzern, tragen nur 20 bis 30 Frauen in der Schweiz eine Burka oder einen Nikab. Dazu kommen gelegentlich einige Touristinnen aus den Golfstaaten. Die betroffenen Frauen, die auch in der Schweiz wohnen, sind zumeist in der Schweiz geboren und für viele unter ihnen zum Islam konvertiert. Das Verhüllen des Körpers ist in den allermeisten Fällen ein persönlicher Entscheid. Nach einem Verbot müssten jene, die aus religiöser Überzeugung an der Burka festhalten wollen, wie auch jene, die von Partnern, der Familie oder Gemeinschaft dazu gezwungen werden, zuhause bleiben oder aber Strafen in Kauf nehmen. Auf die allgemeine Stellung der Frauen in muslimischen Gemeinschaften würde sich ein Verbot aber wohl kaum auswirken. Hingegen würden muslimische Frauen in der Schweiz, die sich als solche zu erkennen geben, noch mehr stigmatisiert, ausgegrenzt, isoliert und in der Ausübung ihrer Rechte behindert. Bereits die laufende Diskussion trägt zu dieser Stigmatisierung bei.
Was kann Amnesty tun, um Frauen zu schützen, die von ihren Männern zum Tragen der Burka gezwungen werden?
Zwang und Nötigung sind Tatbestände, gegen die in der Schweiz strafrechtlich vorgegangen werden kann. Aber wie bei vielen anderen Frauenrechtsverletzungen, die sehr oft straflos bleiben, weil sie im so genannten «Privaten» stattfinden, gilt auch hier: Voraussetzung für die tatsächliche Durchsetzung von Menschenrechten ist, dass die nötigen Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit Frauen ihre Rechte in voller Freiheit ausüben und einfordern können. Dazu zählen zum Beispiel migrations- und integrationspolitische Massnahmen, die die besondere Situation von mehrfach diskriminierten Frauen anerkennen und berücksichtigen, und die Bereitstellung von soziokulturellen Angeboten, die das Selbstbestimmungsrecht von Frauen und ihre Teilhabe am öffentlichen Leben und an allen sie betreffenden Entscheidungen fördern.
Einmal abgesehen von der Burka: Was sagt Amnesty zur Diskussion um das Kopftuch?
Muslimische wie auch nicht-muslimische Frauen tragen aus ganz unterschiedlichen Gründen ein Kopftuch: Um einer religiösen Verpflichtung nachzukommen oder ihre Religionszugehörigkeit offen zu zeigen, um sich gegenüber anderen abzugrenzen oder als Zeichen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinschaft, aus Anpassungsbedürfnis an eine Gruppe oder auch einfach, weil sie es schick finden.
Die Menschenrechte sprechen grundsätzlich jeder Person das Recht zu, frei zu entscheiden, welche religiösen Symbole sie tragen oder nicht tragen will. Jeder Mensch soll dieses Recht aber auch frei von Diskriminierung, Gewalt oder Zwang ausüben dürfen. Eingriffe in dieses Recht müssen eine gesetzliche Grundlage haben, einem wesentlichen übergeordneten Zweck dienen und geeignet sein, diesen Zweck zu erfüllen.
Steht islamisches Recht im Gegensatz zu den Menschenrechten?
Das Engagement von Amnesty International gründet auf der Universalität und Unteilbarkeit aller international garantierten Menschenrechte, die für alle Menschen unabhängig von Religionszugehörigkeit, ethnischer Herkunft oder Geschlecht gelten müssen. Zur grundsätzlichen Kompatibilität des islamischen Rechts mit den Menschenrechten äussert sich Amnesty International nicht. Manche mit Religion oder Tradition begründete Praktiken verstossen jedoch ganz klar gegen die Menschenrechte. Dazu gehören etwa grausame, unmenschliche oder erniedrigende Strafen wie Steinigungen, Auspeitschungen oder Amputationen, Ehrenmorde, aber auch familienrechtliche und zivilrechtliche Regelungen, die klar gegen das Recht auf Gleichstellung und Nichtdiskriminierung verstossen. Solche Praktiken kritisiert und bekämpft Amnesty International unabhängig von der Frage, mit welchem Rechtssystem sie legitimiert werden.
Engagiert sich Amnesty International für die Rechte von Frauen in Ländern mit islamischen Rechtssystemen?
Amnesty International engagiert sich seit Jahren weltweit mit Kampagnen und Aktionen für die Frauenrechte, gegen Gewalt an Frauen und gegen ihre gesetzliche und faktische Diskriminierung, in islamischen Ländern und weltweit. Eine ganz wichtige Referenz ist dabei die Internationale Frauenrechtskonvention CEDAW. Zu deren Bestimmungen stehen Scharia-Gesetze vielfach im Widerspruch, namentlich im Bereich des Strafrechts, des Familienrechts und des Erbschaftsrechts. Konkret setzte sich Amnesty in den letzten Jahren zum Beispiel in zahlreichen Länderaktionen gegen Steinigungen und andere Formen der Todesstrafe ein, die besonders Frauen betreffen, gegen Ehrenmorde und Säureattentate, und für die Abschaffung diskriminierender Gesetze. Mit Religion oder Tradition begründete Menschenrechtsverletzungen sind zudem regelmässig Gegenstand unserer Urgent Actions für Frauen. Ganz aktuell läuft eine Aktion für die Respektierung von Frauenrechten in Afghanistan.